Alle haben ein Recht auf Gesundheit

Der letzten September veröffentlichte Bericht eines UNO-Panels über den Zugang zu Medikamenten zeigt ausführlich auf, wie die heutige Anwendung der geistigen Eigentumsrechte die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit erschwert. Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss war Co-Leiterin der Expertengruppe. Mit uns hat sie über die kontroverse Problematik gesprochen und erklärt, warum es nötig ist, jetzt zu handeln.
© @Mark Henley / Panos

Interview: Géraldine Viret

Frau Dreifuss, trotz enormer medizinischer Fortschritte verfügen Millionen von Menschen nicht über den Zugang zu der medizinischen Behandlung, die sie nötig hätten. Wie ist dieses Paradox zu erklären?
Zu unzähligen Krankheiten forscht die Pharmaindustrie kaum, weil sich die Patientinnen und Patienten die Arzneimittel entweder nicht leisten können oder weil es zu wenig Betroffene gibt, damit der Absatzmarkt genügend gross wäre. Ausserdem erhalten Unternehmen durch Patente ein zeitweiliges Monopol und können so die Preise vollkommen wettbewerbsbefreit festlegen. Diese sind heute teilweise unwahrscheinlich hoch. Die Aufgabe des Panels beschränkte sich allerdings auf die Analyse der Wechselwirkung zwischen dem geistigen Eigentumsrecht, der Innovation im Bereich medizinischer Technologien und dem Zugang zu letzteren durch Personen, welche sie benötigen. Es gibt andere Hindernisse, doch wir hatten weder den Auftrag noch die Zeit, diese zu analysieren.

Man spricht von «vernachlässigten Patienten». Wer sind sie?
Der Begriff «vernachlässigte Patienten» bezeichnete ursprünglich tropischen – hauptsächlich übertragbaren – Krankheiten ausgesetzte Menschenin Entwicklungsländern sowie Personen mit seltenen Krankheiten. Heute stellen jedoch nicht übertragbare Krankheiten wie Krebs oder Diabetes für alle Gesellschaften eine deutlich grössere Last dar, sei es im Norden oder im Süden. Die Kosten für die Behandlung dieser Erkrankungen sind dermassen hoch, dass selbst die Versicherungssysteme und das Gesundheitswesen wohlhabender Länder sie kaum mehr tragen können. So erreicht die Zweiklassenmedizin allmählich die reichsten Länder.

Allmählich erreicht die Zweiklassenmedizin die reichsten Länder.

Die Pharmakonzerne berufen sich zur Rechtfertigung ihrer Preise auf die hohen Kosten für Forschung und Entwicklung. Was erwidern Sie darauf?
Forschung und Entwicklung ist teuer, jedoch keineswegs der einzige Grund für die hohen Medikamentenpreise. Da jegliche Transparenz fehlt, kann man lediglich Schätzungen anstellen. Diese gehen aber davon aus, dass die Marketingausgaben der Unternehmen höher sind als die Investitionen für Forschung und Entwicklung. Vor allem aber ist die Medizin zum Gegenstand weitreichender Finanzspekulation geworden.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Investitionen in Forschung und Entwicklung werden oft von Jungunternehmen getätigt, welche in der Folge von Grosskonzernen aufgekauft werden, die sich hohe Erträge erhoffen. Dies ist etwa beim Arzneimittel gegen Hepatitis C der Fall, dessen überhöhter Preis heute viel zu reden gibt. Je mehr bei Pharmafirmen die Dividenden-Ausschüttung im Vordergrund steht, desto grösser ist der Druck, dass sie kurzfristige Erträge bevorzugen und Studien vernachlässigen, die vielleicht erst langfristig zu einem Ergebnis führen. Zur Behebung dieser Missstände schlägt das Panel im Bericht die Ausarbeitung «kreativer Lösungen» vor.

Worum handelt es sich?
Eine erste Lösung wäre es, die Kostentransparenz zu erhöhen und so die Macht der für die Preisgestaltung zuständigen Behörden zu stärken, damit die Medikamentenpreise tatsächlich in einem Verhältnis zu den Investitionen stehen. Ausserdem müsste man andere Innovationsanreize schaffen als die Grösse des Absatzmarktes und das zeitweilige Monopol durch Patente.

Welche Art von Anreizen?
Einerseits Anreize im Vorfeld, in Form von Subventionen und der gemeinsamen Nutzung privater und öffentlicher wissenschaftlicher Daten und Erkenntnisse, andererseits Ex-Post-Anreize wie etwa Kaufversprechen bei erfolgreicher Entwicklung neuer biomedizinischer Technologien. Das Beispiel öffentlich-privater Partnerschaften, beispielsweise der Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi), zeigt, was man ausserhalb eines rein kapitalistischen Ansatzes erzielen kann.

Staaten haben auch andere Möglichkeiten, um Einfluss zu nehmen. Etwa, indem sie die Herstellung von Generika erlauben, obwohl ein Medikament unter Patentschutz steht. Kolumbien will dies im Fall des Krebsmedikaments Glivec von Novartis tun. Warum machen so wenige Länder von diesem Recht Gebrauch?
Das TRIPS-Abkommen sieht Ausnahmen zugunsten der öffentlichen Gesundheit vor. Diese wurden in der Erklärung von Doha der WTO bestätigt. Nichtsdestotrotz üben die Pharmaindustrien und die Länder, welche sie beherbergen, unaufhörlichDruck aus, damit die Rechte der Staaten so restriktiv wie möglich interpretiert werden. Manchmal reicht die Androhung von Handelssanktionen, um eine Regierung zum Zurückkrebsen zu bewegen. Als Kolumbien Schritte einleitete, um für Glivec eine Zwangslizenz erteilen zu können, befolgte es dabei alle Regeln.

Was halten Sie vom Verhalten der USA und auch der Schweiz, welche versucht haben, die kolumbianische Regierung von diesem Vorhaben abzubringen?
Dass Staaten Druck ausüben, ist schockierend – in diesem Fall vor allem, weil die USA die Finanzierung des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC damit verknüpfte.

Wie haben die Schweizer Pharmaunternehmen auf Ihren Bericht reagiert?
Ich habe den Eindruck, die – vielleicht international abgesprochene – Strategie der Pharmaindustrien besteht darin, möglichst nicht zu reagieren, in der Hoffnung, der Bericht verschwinde von der Bildfläche. Sie sprechen über die Wichtigkeit der geistigen Eigentumsrechte – mit dem impliziten oder expliziten Vorwurf, man schade Patientinnen und Patienten, wenn man die Lücken dieser Rechte aufzeigt. In der Schweiz hat es keine heftigen Reaktionen gegeben und die Haltung der Regierung ist, wenn auch nicht weit von derjenigen der USA entfernt, diplomatischer ausgefallen.

Doch ohne das Engagement von Staaten wie der Schweiz, die über eine bedeutende Pharmaindustrie verfügen, können Ihre Empfehlungen nicht umgesetzt werden. Was erwarten Sie vom Bundesrat?
Ich erwarte von der Schweiz, dass sie dem Druck, der von den Industrien ausgeübt wird, damit die in der Erklärung von Doha vereinbarte Flexibilität nicht angewandt wird, kritisch gegenübersteht und die Industrien nicht unterstützt. Die Schweiz sollte dafür sorgen, dass die Klausel in der eigenen Gesetzgebung tatsächlich umgesetzt wird, welche bei dringendem Bedarf die Möglichkeit der Erteilung einer Zwangslizenz zur Herstellung eines Medikaments und dessen Ausfuhr in ein Landv orsieht, das nicht über die nötigen Produktionskapazitäten verfügt. Ausserdem sollte sie das bei der WHO schon zu lange blockierte Projekt eines Finanzierungsmechanismus für Forschung und Entwicklung unterstützen.

Ermöglicht dieser Bericht echte Fortschritte?
Ein solcher Bericht ist immer nur ein Instrumentarium mit Argumenten und möglichen Richtungen. Alles hängt davon ab, wer diese Instrumente nutzt. Ich bin zuversichtlich, dass die in diesem Bereich tätigen Organisationen sie zu nutzen wissen, um die notwendigen Reformen voranzutreiben. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gab es – vorallem beim gemeinsamen Kampf gegen HIV und AIDS – eine grosse internationale Dynamik. Die indiesem Bericht angesprochenen Themen werden, zusammen mit anderen Herausforderungen wie der zunehmenden Antibiotikaresistenz von Bakterien, diese Dynamik neu in Schwung bringen. Wir müssen handeln, denn alle haben ein Recht auf Gesundheit.

Ist die Ungleichheit in Bezug auf heilbare Leiden und Krankheiten nicht die untragbarste aller Ungleichheiten zwischen arm und reich? 

Wie sehen Sie die Rolle von NGOs wie Public Eye?
Viele gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure engagieren sich für eine medizinische Innovation, die den tatsächlichen Problemen gerecht wird und allen zugänglich ist: Patientengruppen, die ungedeckte Bedürfnisse sichtbar machen; Wissenschaftlerinnen, die mit ihrer Forschung nicht in erster Linie Aktionäre bereichern wollen, Ärzte, welche die bestmögliche Behandlung anstreben usw. Sie alle spielen eine wichtige Rolle. Eine Organisation wie Public Eye konzentriert sich darauf, zu analysieren, wie sich das Verhalten von – namentlich Schweizer – Unternehmen auf die schwächsten Bevölkerungsgruppen auswirkt und liefert damit präzise Fakten für eine Bewegung, welche die Grundrechte verteidigt. Die politischen Aktivitäten der Organisation, aktuell besonders die Konzernverantwortungsinitiative, fördern die öffentliche Debatte und dienen der Privatwirtschaft und der Regierung hoffentlich als Antrieb.

Was hat Sie dazu bewogen, sich in diesem Kampf zuengagieren?
Ist die Ungleichheit in Bezug auf heilbare Leiden und Krankheiten nicht die untragbarste aller Ungleichheiten zwischen arm und reich? 

Zur Person Ruth Dreifuss ist seit vielen Jahren Mitglied von Public Eye. Als Bundesrätin stand sie von 1993 bis 2002 dem Departement des Innern vor und war insbesondere zuständig für das Gesundheitssystem, die Sozialversicherungen und die wissenschaftliche Forschung. Seit ihrem Rückzug aus der Bundespolitik engagiert sie sich im Bereich der öffentlichen Gesundheit, des geistigen Eigentums und der Menschenrechte.

Dieses Interview erschien im Magazin Nr. 3, Januar 2017. Das Magazin von Public Eye erscheint 5x jährlich. Als Mitglied erhalten Sie das Magazin kostenlos, Einzelexemplare können Sie im Shop bestellen.

Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in unserem Dossier zu Patenten und Zugang zu Medikamenten.