Die WTO ruft zur grossen Dienstleistungsrunde

Hintergrundartikel von EvB-Handelspolitikexpertin Marianne Hochuli zum Stand der Verhandlungen, erschienen in der WoZ vom 27.6.02

Das bereits 1994 entstandene WTO-Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) tritt ab Ende Juni in entscheidende Verhandlungsphasen. Der Widerstand gegen eine Stärkung der Wirtschaft in politisch wichtigen Bereichen wächst und wächst.

«Was, wenn der Nahrungsmittelmulti Nestlé die Schweizer Wasserversorgung übernähme?», lautete einer der Slogans der Postkartenkampagne von Schweizer Nichtregierungsorganisationen gegen die bevorstehenden Dienstleistungsverhandlungen. Was vor einem Jahr noch als Übertreibung und abschreckendes Beispiel gemeint war, ist unterdessen beinahe Realität geworden. Nestlé bewarb sich in der Gemeinde Bevaix im Kanton Neuenburg um die Nutzungsrechte für die Trinkwasserquelle. Als jedoch Attac Neuenburg das Gesuch von Nestlé publik machte, hagelte es bei der Kantonsregierung mehr als 120 Einsprachen besorgter BürgerInnen. Nestlé blieb schliesslich nichts anderes übrig, als sich dem Druck der lokalen Bevölkerung zu beugen und das Gesuch zurückzuziehen.

Service public als neuer Markt

Private Unternehmen werden sich mehr und mehr in bisher staatlich geschützen Bereichen wie der Wasserversorgung, im Gesundheits- und Bildungsbereich sowie im öffentlichem Verkehr engagieren. Ein wichtiger Wegbereiter der Konzerne ist das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services). Dieses Abkommen wurde bereits 1994 geschlossen, tritt aber erst jetzt in entscheidende Verhandlungphasen. Ziel ist die weltweite Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen. Da viele Dienstleistungen nicht grenzüberschreitend angeboten werden können, ohne dass sich die Firma auch an Ort befindet, ist das GATS zugleich das erste multilaterale Abkommen über Investitionen, das die Rechte von Investoren massgeblich stärken soll.

Treibende Kraft für das Zustandekommen des GATS waren die Dienstleistungsunternehmen des Nordens. Sie können sich durch eine Liberalisierung die meisten Chancen ausrechnen. Zu ihnen zählen als wichtigste Lobbyinggruppen die US Coalition of Service Industries, das European Services Forum und das Global Services Network. Diese Lobbies wollen mit Hilfe des GATS neue profitable Geschäftsfelder erschliessen. Auf ihrer Website schreibt die US Coalition of Services Industries denn auch, dass sie sich von den anstehenden Dienstleistungsverhandlungen bei der WTO für die US-Industrie bedeutend mehr Handels- und Investitionsmöglichkeiten erhofft. Dazu gehört auch der Zutritt zu bisher stark geschützten Bereichen des Service public wie Bildung und Gesundheitsversorgung. Die Investmentgruppe Lehman Brothers bezeichnet den Bildungsbereich als «die letzte Grenze», die es zu erobern gelte.

Geheimhaltung mit Leck

Bis Ende Juni 2002 sind die WTO-Mitglieder – also auch die Schweiz – angehalten, andere Länder aufzufordern, bestimmte Dienstleistungssektoren für ausländische DienstleistungsanbieterInnen zu öffnen. Bis März 2003 findet dann bei der WTO die nächste Phase statt: jedes Land soll all jene Bereiche benennen, wo es bereit ist, seine Grenzen gegenüber ausländischen Investoren zu öffnen. Dieser Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Es gehört zur diplomatischen Taktik, die zurückbehaltenen Trümpfe im richtigen Moment ausspielen zu können. Umso ärgerlicher war es für die EU, dass ihre geheimen und umfangreichen Forderungskataloge an 24 Länder durch ein Leck bekannt wurden und nun auf zahlreichen Websites von Nichtregierungsorganisationen zirkulieren. Die 24 Länder – darunter auch die Schweiz – werden mit weitreichenden Liberalisierungsforderungen konfrontiert. Die EU fordert den möglichst schrankenlosen Zugang ihrer Firmen zu Postdiensten, Telekommunikation, Tourismus, zum Energiesektor und als ganz heissen Punkt: zur Wasserversorgung.

Neue Märkte im Süden

Als vielversprechende Märkte für Dienstleistungsfirmen des Nordens werden vor allem die sogenannten Schwellenländer in Lateinamerika angepeilt, unter den ärmeren Ländern sind China, Pakistan und als einzige afrikanische Länder Südafrika und Ägypten zu finden. Auch diese beiden afrikanischen Länder sollen nach dem Wunsch der EU und ihrer mächtigen Wasserkonzerne ihre Wasserversorgung öffnen. Rosalina Muroyi von SEATINI (Southern and Eastern African Trade, Information and Negotiations Iniative) befürchtet, dass die begonnene Armutsbekämpfungspolitik in Frage gestellt ist, falls die südafrikanische Regierung dem Druck der EU nachgibt. So erhalten mittellose Haushalte zur Zeit wenigstens ein Minimum an Wasser und Elekrizität gratis. Muroyi bezweifelt, dass diese soziale Politik bei einer Marktöffnung fortgeführt werden könnte. Auch Indien, das im Augenblick noch eine relativ regulierte Wirtschaftspolitik betreibt, sieht sich einem riesigen Forderungskatalog gegenübergestellt. Es wird angehalten, u.a. seinen Finanzsektor weitgehend zu öffnen und störende Regulierungen abzubauen. Indien verlangt von ausländischen Investoren eine Einwilligung der «Reserve Bank of India», damit sie ihre Gewinne rückführen können. Solche Regulierungen sollen zuallererst beseitigt werden.

Regelungen sind Handelsschranken

Dienstleistungen unterliegen heute noch vielfältigen Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsrichtlinien, Normen und Standards, mit denen umwelt-, sozial-, gleichstellungs- und verbraucherschutzpolitische Ziele angestrebt werden. Das multinationale Handelsabkommen GATS greift mit seinen Liberalisierungs- und Deregulierungsanforderungen tief in nationale Politiken ein. Formal gesteht das GATS zwar den Nationalstaaten die Souveränität zu, weiterhin innerstaatliche Regeln zu erlassen, solange diese für inländische wie ausländische Anbieter in gleichem Masse gelten. Die einzelnen Länder werden aber angesichts des zunehmenden internationalen Standortwettbewerbs versuchen, Regelungen zu minimieren. Ausserdem hat die WTO bereits eine spezielle Arbeitsgruppe eingesetzt, die staatliche Regulierungen einem sogenannten «Notwendigkeitstest» (necessity tests) unterwirft. Dieser Test soll beurteilen, ob eine staatliche Regulierung nicht «mehr als notwendig handelsverzerrend» ist. Es dürfte unter dem GATS auch immer schwieriger werden, eine Regionalpolitik zu betreiben, ohne ausländische Investoren zu diskriminieren. Wird zum Beispiel die Nahversorgung gefördert, so müssen dabei ausländische AnbieterInnen ungleich behandelt werden, was die WTO nicht erlaubt. Die Beschränkung der Zahl von Hotels oder Skiliften in einer sensiblen Naturregion benachteiligt beispielsweise ausländische InteressentInnen gegenüber inländischen Unternehmen, die schon zum Zug gekommen sind.

Der Gesundheits- sowie der Bildungsbereich wurde bisher vom GATS noch kaum tangiert. Zwar ist sowohl die EU als auch die Schweiz im privaten und höheren Bildungsbereich bereits Liberalisierungsverpflichtungen eingegangen, die staatlichen Schulen sind jedoch davon im Augenblick nicht betroffen. Immer öfter verlangen aber bürgerliche PolitikerInnen Subventionen für Privatschulen. Sollten Privatschulen in Zukunft Subventionen erhalten und kommen durch die Marktöffnung noch neue ausländische Privatschulen dazu, dann haben diese dasselbe Recht auf staatliche Subventionen. Dadurch wäre schliesslich für die öffentlichen Bildungsinstitutionen viel weniger Geld vorhanden. In den USA haben solche Entwicklungen zu einem Zweiklassensystem geführt. Gute Bildung für diejenigen, die es bezahlen können, für die anderen bleiben die vernachlässigten Staatsschulen.

Der Widerstand wächst

In vielen Teilen der Welt ist die Bevölkerung durch die Kampagnen- und Aufklärungsarbeit von Nichtregierungsorganisationen und Basisbewegungen hellhörig geworden. Die Direktoren der 21 Universitäten Schottlands sandten zum Beispiel ein Schreiben an das schottische Parlament, in dem sie warnten, dass die Universitäten jeden Versuch, die höhere Bildung dem GATS zu unterstellen, bekämpfen würden. Davis Caldwell, Direktor der Universitäten Schottlands, schrieb: «Die Universitäten Schottlands sind der Ansicht, dass die primäre Aufgabe einer höheren Bildung darin bestehen muss, das Lernen zu fördern und Wissen zu kreieren und nicht Profite für Shareholder zu generieren.» In der Schweiz lancierte die Erklärung von Bern, die Gewerkschaften sowie attac Schweiz bereits im Juni 2001 die Kampagne «Kein Ausverkauf des Service public». Mit einer originellen Kartenaktion forderten sie Bundesrat Couchepin auf, die öffentlichen Dienstleistungen keinesfalls den GATS-Regeln zu unterstellten und statt dessen eine offene und demokratische Diskussion über bereits eingegangene Verpflichtungen zu führen. Ausserdem müssten vor allem auch die ärmeren Länder das Recht behalten, ihre Investitionen nach den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung regeln zu können. Diese Forderungen wurden auch in einer Petition gestellt, die am 27. Juni in der Bundeskanzlei übergeben wird.

Die Reaktion des Bundesrates auf die Kampagne «Kein Ausverkauf des Service public» war zugleich offensiv und zurückhaltend. Die Tatsache, dass an alle KartenschreiberInnen eine persönliche Antwort im Namen von Bundesrat Couchepin versandt wurde, zeigt die Bedeutung, die die Schweizer Handelsdiplomatie dem GATS zuschreibt. Das Schreiben verfolgt in erster Linie die Absicht, Bedenken zu zerstreuen. Herr Couchepin weigert sich jedoch, öffentliche Dienstleistungen ausdrücklich vom GATS auszunehmen, fallen diese doch –wie er zugibt - längstens unter die WTO-Regeln. Couchepins Bundesamt, das Staatssekretariat für Wirtschaft seco, vertritt die Haltung, dass es an den einzelnen Regierungen liege, ob sie Liberalisierungsverpflichtungen eingehen wollten oder nicht. Dass solche Verhandlungen von einem grossen Machtgefälle zwischen reicheren und ärmeren Ländern geprägt sind, und letztere keine allzugrossen Wahlfreiheiten besitzen, interessiert das seco nicht.
Auf jeden Fall können die laufenden Bemühungen des Bundesrates, der Bevölkerung die Liberalisierungen im Post- und Energiebereich schmackhaft zu machen, als eine Vorbereitung dafür angesehen werden, welche Dienstleistungssektoren die Schweizer Regierung markt- und WTO-konform gestalten möchte.

Das Demokratiedefizit muss behoben werden

Eine Diskussion über das Demokratiedefizit bei den WTO-Dienstleistungsverhandlungen ist dringend nötig. Europäische Nichtregierungsorganisationen haben ihre Parlamente aufgefordert, Stellung zu beziehen und die Liberalisierungsvorschläge- und absichten offen auf den Tisch zu legen. Die Zeit, als die Handelspolitik in diplomatischen Geheimverhandlungen gemacht werden konnte, ist mit solch weitreichenden Handelsabkommen, die einen direkten Einfluss auf den politischen Handlungsspielraum haben, endgültig vorbei.

Grundprinzipien der WTO

  • Marktzugang: der einheimische Markt soll ausländischen Anbietern – in der WTO-Sprache Investoren genannt - geöffnet werden.
  • Inländerbehandlung: bedeutet, dass Regierungen ausländische Dienstleistungserbringer in gleicher Weise behandeln müssen wie einheimische; das heisst, dass sie die inländischen Dienstleistungserbringer nicht bevorzugen dürfen.
  • Meistbegünstigung: Keine ausländische AnbieterIn darf schlechter gestellt werden als eine andere
  • Als Dienstleistungen gelten zum Beispiel: Leistungen von Banken, Versicherungen, der Tourismus, Leistungen im Umwelt- und Energiebereich, das Transportwesen, die Informatik, aber auch das Gesundheits und Bildungswesen.