"Liberalisierung per se kann kein Ziel sein"

EvB-Handelsexperte Thomas Braunschweig im Interview mit dem Muslim Markt, einem Internetmagazin für deutschsprachige MuslimInnen, über die Fehler der WTO, die Reform des Finanzsystems und die Notwendigkeit von Solidarität.

MM: Sehr geehrter Herr Braunschweig, Sie treten im Rahmen der aktuellen Wirtschafts-, Umwelt- und Ernährungskrise mit sehr kritischen Äusserungen gegenüber der Welthandelsorganisation (WTO) auf und bezeichnen diese als Teil des Problems. Wie ist das zu verstehen?
Braunschweig: Es können zwei Ebenen unterschieden werden. Auf der ideologischen Ebene hat sich die WTO immer dem Liberalisierungsdogma verpflichtet gefühlt. Die Förderung des Freihandels ist quasi "raison d'être" der Organisation. Dabei wurde von der WTO die Liberalisierung des Welthandels zunehmend als Selbstzweck interpretiert, während sie doch in Wirklichkeit als Mittel zum Zweck zu verstehen ist. Liberalisierung per se kann kein Ziel sein, sondern muss zur Wohlstandssteigerung beitragen. Dies ist aber bei Weitem nicht immer der Fall, wie die Finanzkrise deutlich gezeigt hat. Diese hat dann bekanntlich in die Wirtschaftskrise geführt und auch zur Ernährungskrise beigetragen. Experten und Expertinnen sind sich einig, dass die Finanzkrise durch zuwenig - nicht zuviel - Regulierung ausgelöst wurde. Die WTO als globale Verfechterin der Freihandels hat dazu das ideologische Fundament geliefert und durch das Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) die Deregulierung der Finanzmärkte vorangetrieben. Auf der praktischen Ebene haben die WTO-Handelsregeln zur Vernachlässigung von ökologischen und sozialen Kosten geführt. Damit wurde Entwicklungsstrategien und Wirtschaftspolitiken Vorschub geleistet, die nicht nachhaltig sind und früher oder später in Umwelt- und Sozialkrisen münden. So wurden die sozialen Kosten einer Liberalisierung der Agrarmärkte - in Form einer reduzierten Ernährungssouveränität - ignoriert. Dies führte in vielen Entwicklungsländern zu einer einseitigen Exportorientierung der Landwirtschaft und schwächte ihr Produktionspotential für Grundnahrungsmittel. Als die Nahrungsmittelpreise auf den Weltmärkten dann in die Höhe schnellten, konnte nicht auf inländische Produktionskapazitäten zurückgegriffen werden. Ausserdem entzogen die von der WTO durchgesetzten Zollsenkungen dem Staat die notwendigen Mittel, um importierte Nahrungsmittel zu subventionieren und weitere soziale Sicherheitsnetze zu finanzieren.

Aus Sicht vieler so genannter Entwicklungsländer, ist ein Teil ihrer Misere im einer zunehmend aggressiver werdenden Wirtschaftspolitik der Westlichen Welt begründet. Ist die WTO ein Teil der "Westlichen Welt"?
Wenn unter "Westlicher Welt" die wirtschaftlich mächtigen und politisch einflussreichen Länder verstanden werden, trifft dies sicherlich zu. Und dies obwohl die WTO nach dem Prinzip "Ein Land - eine Stimme" funktioniert und eine Mehrheit der Mitglieder Entwicklungsländer sind. Ein Grund liegt darin, dass die WTO bzw. ihr Vorläufer GATT ein Kind der "Westlichen Welt" ist und diese daher traditionell einen starken Einfluss auf die Organisation ausübt. Viel entscheidender für die Vereinnahmung der WTO durch den reichen Norden sind jedoch dessen Überlegenheit im Bereich verhandlungsrelevanter Ressourcen und fachlichen Kapazitäten, das politische und wirtschaftliche Machtpotenzial sowie die massive Einflussnahme durch multinationale Unternehmen. Es ist jedoch interessant festzustellen, dass in jüngster Zeit eine Gewichtsverschiebung in der WTO stattgefunden hat. So hat der Einfluss der grossen Schwellenländer wie Brasilien, China und Indien deutlich zugenommen; dies hauptsächlich aufgrund der rasch zunehmenden Bedeutung ihrer Volkswirtschaften und ihres erstarkten Selbstbewusstseins. Besonders augenfällig ist die Machtverschiebung innerhalb der WTO bei der laufenden Doha-Verhandlungsrunde. Der äusserst zähe Verlauf der Verhandlungen - sie dauern bereits über acht Jahre - und die schwindende Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluss ist hauptsächlich auf den Widerstand dieser Länder zurückzuführen, die nicht mehr bereit sind, vom Westen über den Tisch gezogen zu werden.

Sind Sie demnach gegen die WTO?
Nein, die Erklärung von Bern steht trotz all ihrer Kritik an der heutigen Funktionsweise und Orientierung der WTO ganz klar hinter einem multilateralen Handelssystem mit verbindlichen Regeln. Denn gerade für schwächere Länder ist ein solches Regelwerk Voraussetzung dafür, dass nicht einfach das Recht des Stärkeren gilt. Die WTO muss sich jedoch grundlegend ändern: Sie muss viel transparenter werden und sich stärker an demokratischen Prinzipien ausrichten - nicht nur auf dem Papier. Wichtiger ist jedoch, dass sie sich endlich von der Freihandelsideologie verabschiedet und sich stattdessen an Werten wie Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenrechte orientiert.

Welches Interesse könnte ein "Westlicher Staat" - wir wissen jetzt nicht so genau, ob wir die Schweiz dazu zählen sollen - an fairen Handelsbeziehungen zu schwächeren Ländern haben, wenn sie doch vor allem in der Ausnutzung der Schwäche ihren Profit sieht?
Faire Handelsbeziehungen sind für mich zuallererst einmal ein moralischer Imperativ. Gerade der Schweiz, die ja sehr Stolz ist auf ihre humanitäre Tradition, würde es gut anstehen, hier mit gutem Beispiel voranzugehen und in den Handelsbeziehungen zu schwächeren Ländern ihre kurzfristigen Eigeninteressen etwas zurückzunehmen. Schliesslich betrachte ich die zunehmende globale Ungleichheit als eine der ganz grossen Herausforderungen unserer Zeit. Die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt steht daher besonders in der Pflicht, einen Beitrag zu mehr Ausgleich zu leisten. Ausserdem würde ein grosszügigeres Verhalten bei der Gestaltung der Handelsbeziehungen durchaus auch die Interessen der Schweiz bedienen. Denn erstens könnte sie damit ihren international ramponierten Ruf als Profiteur (Stichwort Bankgeheimnis) aufbessern. Zweitens ist eine fairere Behandlung der ärmeren Länder das wohl effektivste Mittel gegen die stark zunehmende Migration, die für den Westen zu einem immer grösseren Problem wird. Und drittens hängt gerade eine auf Export ausgerichtete Volkswirtschaft wie diejenige der Schweiz von einer starken Kaufkraft auf ihren Absatzmärkten ab. Woher aber soll diese Kaufkraft kommen, wenn die Schweiz mit unfairen Handelsbeziehungen die wirtschaftliche Entwicklung schwächerer Länder hemmt?

Nun ist die aktuelle Krise sicherlich auch eine Krise der Grundlagen des bestehenden Finanzsystems. Welche Chance aber sehen sie, das Finanzsystem zu reformieren, wenn die nicht unerhebliche Macht dazu in den Händen derer liegt, die am alten System festhalten möchten?
Da bin ich, ehrlich gesagt, sehr skeptisch. Der bisherige Umgang mit der Finanzkrise lief weitgehend nach dem bekannten Prinzip "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren" ab. Damit wurde die vielleicht einmalige Chance vergeben, die grossen Finanzakteure zu entmachten und das Finanzsystem wieder in den Dienst der Realwirtschaft zu stellen. Auch bin ich erstaunt, dass der Neoliberalismus als ideologische Grundlage des bestehenden Finanzsystems in der Öffentlichkeit nicht stärker in Frage gestellt wird. Aber vielleicht bin ich auch zu ungeduldig. Immerhin scheint deren Zenit überschritten, und der Glaube an die selbstregulierenden Kräfte des Marktes wurde nachhaltig erschüttert. Für eine nachhaltige Reform des Finanzsystems muss jedoch vor allem das Primat der Politik über die Wirtschaft wieder hergestellt werden - und bei den heutigen Machtverhältnissen betrachte ich dies als wahre Herkules-Aufgabe.

Könnte in diesem Rahmen nicht auch die Zinswirtschaft grundlegend hinterfragt werden? Wäre das nicht gerade für die Schweiz ein Katastrophe, da doch ein Grossteil ihres Wohlstandes auf Zinsen beruht?
Die Zinswirtschaft erachte ich tatsächlich als ein zentrales Problem unseres heutigen Wirtschaftverständnisses - nicht nur im Kontext der aktuellen Finanzkrise, sondern viel grundsätzlicher bezüglich dem Zwang zu grenzenlosem Wirtschaftswachstum. Denn es ist ja in erster Linie die Zinswirtschaft, die uns zu diesem Wachstum verdammt. Dass ewiges Wachstum, auch mit stark vermindertem Ressourcenverbrauch, keine Option ist, hat ein neuer Bericht von progressiven Ökonomen und Ökonominnen eben wieder überzeugend dargelegt. Ganz abgesehen davon demonstrieren die Resultate der Glücksforschung in konsistenter Weise, dass steigender materieller Wohlstand - das Ergebnis von Wirtschaftswachstum - in unseren westlichen Gesellschaften nicht zu mehr Zufriedenheit führt. Es ist ja auch bezeichnend, dass in den meisten grossen Weltreligionen, darunter auch dem Islam, das Zinsgeschäft verboten oder zumindest stark eingeschränkt ist; oder - wie im Fall des Christentums - war. Was die Schweiz betrifft, muss diese ihren Finanzsektor ohnehin redimensionieren - aus Gründen des verstärkten ausländischen Drucks, aber auch aus Risikoüberlegungen. Im Übrigen hat die Schweiz lange genug auf Kosten anderer über ihre Verhältnisse gelebt und wird sich zunehmend daran gewöhnen müssen, dass für sie die fetten Jahre vorbei sind.

In wissenschaftlichen Theorien gibt es ja durchaus Betrachtungen, wie vereinfacht dargestellt im so genannten "Gefangenendilemma", bei dem der wahre Egoist mit seinem Partner teilt, da der faire Ausgleich letztendlich für alle Beteiligten von grösserem Vorteil ist und zu grösserem Wohlstand führt. Warum setzen sich solche wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ja nicht aus Entwicklungsländern stammen, so wenig in der Praxis durch?
Das Gefangenendilemma zeigt auf, wie individuell rationale Entscheidungen zu einem schlechteren Ergebnis für das Kollektiv führen können. Ein anderes Beispiel für dieses soziale Dilemma ist die Situation, in der sich eine Gruppe Menschen in einem Raum aufhält, in dem Feuer ausbricht. Es ist aus der individuellen Perspektive durchaus rational, so schnell als möglich auf die Türe zuzustürmen um dem Feuer zu entkommen. Das dadurch entstehende Gedränge an der Türe führt jedoch zu einem Stau und damit zu einer höheren Opferzahl. Aus kollektiver Sicht wäre es daher sinnvoller, ruhig und geordnet den Raum zu verlassen. Dies bedingt jedoch Kooperation und Vertrauen. Wenn sich nun in der Praxis diese kollektive Sicht nicht durchsetzt, bedeutet dies offensichtlich, dass es den Menschen in vielen Situationen an diesen beiden grundlegenden Elementen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mangelt. Dies ist nicht weiter erstaunlich, dominiert doch in der Schule wie auch im täglichen Leben allzu oft das Konkurrenz- und nicht das Kooperationsprinzip. Und dazu trägt unser wirtschaftliches System in nicht unwesentlichem Masse bei. Ein wichtiger Aspekt bei diesen Überlegungen sind die üblicherweise existierenden Machtungleichgewichte. In einer solchen Situation (die im Beispiel des Gefangenendilemmas nicht vorgesehen ist) kann sich der egoistisch agierende Mächtige einen Vorteil auf Kosten des Schwächeren sichern ohne ein Risiko einzugehen. Dies weist auf die Bedeutung von solidarischem Handeln als Grundprinzip für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben hin. Oder in den Worten von Richard von Weizsäcker: "Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein."

Die ungekürzte Fassung des Interviews kann auf Muslim Markt nachgelesen werden.