Yavatmal: Deutlich mehr Ver­giftun­gen mit Syngenta-Pestizid als bislang bekannt

2017 kam es in Yavatmal, Indien, zu massiven Vergiftungsfällen. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Pestizid «Polo» von Syngenta, auch Public Eye hat damals darüber berichtet. Neue Recherchen und amtliche Dokumente aus Indien lassen darauf schliessen, dass das Ausmass der Vergiftungsfälle deutlich grösser war als bislang bekannt. Ungeachtet dessen verkauft Syngenta weiterhin Polo in Indien. Die Betroffenen reichten deshalb in der Schweiz eine OECD-Beschwerde ein. Die Familien von zwei Todesopfern sowie ein überlebendes drittes Vergiftungsopfer bringen ihren Fall zudem vor ein Schweizer Gericht.

Im zentralindischen Yavatmal wurden 2017 innert 12 Wochen rund 800 Landarbeiter schwer vergiftet, als sie auf Baumwollfeldern Pestizide ausbrachten. Über 20 von ihnen starben. Eine Recherche von Public Eye zeigte, dass Polo, ein von Syngenta hergestelltes Insektizid, mitverantwortlich war für die Vergiftungen. Polo ist ein Insektizid mit dem Wirkstoff Diafenthiuron. In der Schweiz und in der EU ist der Wirkstoff seit Jahren verboten. Er wurde 2009 vom Schweizer Markt zurückgezogen und steht auf der Liste der Stoffe, die «wegen ihrer Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen oder auf die Umwelt verboten» sind. Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) hat Diafenthiuron als «giftig beim Einatmen» eingestuft und spezifiziert, dass der Wirkstoff «bei längerer oder wiederholter Exposition organschädigend» sein kann.

Syngenta hat seine Mitverantwortung für die Vergiftungsfälle bisher stets klein geredet oder sogar ganz bestritten.

Der Konzern beanstandete auch eine 10vor10-Recherche zu den Vorkommnissen in Yavatmal – freilich erfolglos.

© Atul Loke / Panos Pictures

Dutzende Vergiftungsfälle

Amtliche Dokumente, die den beschwerdeführenden Organisationen aus Indien, Deutschland und der Schweiz zugespielt wurden, deuten darauf hin, dass das Ausmass der Vergiftungen im Zusammenhang mit Polo weitaus grösser ist als bislang bekannt. Insgesamt 96 Vergiftungsfälle wurden 2017 von der Polizei im Zusammenhang mit Polo protokolliert, in 36 Fällen wurde gemäss Protokoll ausschliesslich Polo benutzt. Darüber hinaus hatte die Maharashtra Association of Pesticides Poisoned Persons (MAPPP) mit zahlreichen weiteren Vergiftungsopfern Kontakt.

Das indische Pesticide Action Network (PAN India), PAN Asia Pacific, das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) aus Berlin und Public Eye reichten am 17. September 2020 in Bern zusammen mit MAPPP und im Namen der betroffenen Bauernfamilien eine Beschwerde beim Nationalen Kontaktpunkt (NKP) für die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen ein. Dafür wurden die Fälle von 51 Bauern aufgearbeitet, die berichteten, dass sie zwischen September und Oktober 2017 «Polo» nutzten. Die Betroffen litten an akuten Vergiftungssymptomen und verfügen teils über entsprechende medizinische Atteste.

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Im armen Distrikt Yavatmal ist für viele Familien durch Vergiftungsfälle das ohnehin tiefe Haushaltseinkommen dramatisch gesunken; viele leiden noch immer unter gesundheitlichen Folgen.

Massive Auswirkungen für ganze Familien

Alle 51 Opfer mussten sich in ärztliche Behandlung begeben. Zu den akuten Vergiftungsfolgen gehörten Augenprobleme, Übelkeit, neurologische und muskuläre Symptome, Atemprobleme sowie Schwellungen und Hautreaktionen. 43 Personen wurden hospitalisiert, die Mehrheit zwischen einem Tag und 2 Wochen, 9 Personen länger als 2 Wochen, eine Person verbrachte gar 31 Tage im Spital. 44 der 51 Personen berichteten über temporären Sehverlust, 16 Personen waren während mehreren Stunden bis mehrere Tage bewusstlos. Die meisten waren längere Zeit arbeitsunfähig, einzelne gar bis zu einem Jahr. 28 Personen berichteten über anhaltende Gesundheitsprobleme, u.a. neurologische und muskuläre Probleme.

Für viele Familien ist durch den Vergiftungsfall ausserdem das ohnehin tiefe Haushaltseinkommen dramatisch gesunken und zugleich die Belastung für die weiblichen Haushaltmitglieder gestiegen. Die Frauen müssen nebst der Kinderversorgung auch ihre kranken Ehemänner pflegen und als Tagelöhnerinnen auf den Feldern arbeiten, wobei sie einen deutlich geringeren Lohn als Männer erhalten. Und auch das soziale Leben leidet: Viele Vergiftungsopfer können keine längeren Distanzen mehr gehen oder können sich wegen wiederkehrenden Reizungen von Haut und Augen nicht mehr der Sonne aussetzen und sind dadurch in ihrem Aktivitätsradius massiv eingeschränkt.

Es braucht jetzt Taten und Reformen

Die Organisationen beschreiten einen formellen Schlichtungsweg in der Erwartung, dass dies – im Gegensatz zum bisherigen direkten Kontakt mit Syngenta – endlich zu konkreten Resultaten führt. Die Beschwerdeführenden fordern unter anderem,

  • dass Syngenta in Indien an Kleinbauern keine gefährlichen Pestizide verkauft, für die – wie bei Polo – im Vergiftungsfall kein spezifisches Gegenmittel zur Verfügung steht und für die es Schutzausrüstung braucht (gemäss Artikel 3.6 des «International Code of Conduct on Pesticide Management» der FAO/WHO, zu dessen Einhaltung sich Syngenta verpflichtet hat, und der fordert, dass die Verwendung von Pestiziden, welche eine «Schutzausrüstung erfordern, die unbequem, teuer oder nicht leicht erhältlich ist», vermieden wird, insbesondere «im Falle von Kleinbäuerinnen und Landarbeitern in heissen Klimazonen»).
  • eine finanzielle Entschädigung für die Beschwerdeführenden 51 Opfer für deren medizinische Behandlungskosten und Lohnausfälle.
  • Giftiges Pestizid, nackte Füsse. «Schuhe tragen, das geht nicht», sagt der junge Mann namens Akash. © Atul Loke / Panos Pictures
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  • Die leeren Behälter hochgefährlicher Pestizide bleiben im Gebrauch: um Trinkwasser zu transportieren oder für den täglichen Toilettengang. © Atul Loke / Panos Pictures
Im ländlichen Kontext Indiens ist die sichere Anwendung hochgefährlicher Pestizide nicht gewährleistet; es fehlt an Wissen und an Schutzausrüstung. Unten rechts Kinder, welche leere Pestizidpackungen als Wasserbehälter nutzen.

Die amtlichen Dokumente aus Indien liefern auch Hinweise auf zwei im Zusammenhang mit Polo aufgetretene Todesfälle. Die Fachanwaltskanzlei schadenanwaelte hat deshalb mit den Hinterbliebenen sowie mit einem überlebenden dritten Vergiftungsopfer in Basel eine auf der Produktehaftung basierende Schadensersatzklage eingereicht, da einer der Wirkstoffe im Pestizid, Diafenthiuron, direkt aus der Schweiz stammte. Bei Klagen aus dem Produktehaftpflichtgesetz gilt eine Verjährungsfrist von drei Jahren, die in diesen Fällen Mitte September 2020 abläuft.

Einmal mehr zeigt sich hier, zu welch gravierenden Menschenrechts­ver­letz­ungen es durch Schweizer Konzerne kommt.

Eine Annahme der Konzernverantwortungsinitiative wäre ein entscheidender Schritt, um Konzerne für ihr Handeln künftig stärker in die Verantwortung zu nehmen und Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen, bevor sie geschehen. Die Konzernverantwortungsinitiative würde zudem dafür sorgen, dass eine Schadenersatzpflicht des Gesamtkonzerns selbstverständlich wird. Neu daran wäre nicht, dass ein Schweizer Gericht über einen Schadensfall im Ausland zu urteilen hat, sondern dass der Hauptsitz auch für jene Menschenrechtsverletzungen haftbar wird, welche ausländische Teile des Konzerns verursachen und die der Schweizer Hauptsitz mit entsprechender Sorgfalt hätte verhindern können.

Hier finden Sie die vollständige OECD-Beschwerde.

Public Eye Reportage 2018 Der Skandal von Yavatmal