Ukraine Die Vertreibung der russischen Oligarchen aus dem Schweizer Paradies

Seit mehr als drei Jahrzehnten wirkt die Schweiz wie ein Magnet auf russische Milliardäre, die Wladimir Putin nahestehen. Da sie sich in einem riskanten Umfeld bewegten, setzten sie auf die Schweizer Neutralität und erfreuten sich der lieblichen Landschaft sowie der Diskretion der angebotenen Dienstleistungen, insbesondere jener der Banken. Der Krieg in der Ukraine stellt nun alles in Frage. Nachdem Bern den Oligarchen lange den roten Teppich ausgerollt hat, schloss sich der Bundesrat nun den Sanktionen der Europäischen Union an und begann darauf die Jagd nach russischen Vermögenswerten.

Es sind etwa 40 Milliardäre und Industriebosse, die sich im prunkvollen Katharinensaal des Kremls eingefunden haben, um zu hören, was der Präsident ihnen zu berichten hat. Leichenblass, mit zerknitterter Miene, trauen sie sich nicht, die Wurstbrote und Fleischpasteten anzurühren, die man ihnen als Snack zubereitet hat. Im Morgengrauen dieses 24. Februars marschierte die russische Armee in die Ukraine ein, um den slawischen Nachbarn zu «entnazifizieren» und zu «entmilitarisieren». Am Abend beruft Wladimir Putin die Wirtschaftsführer zu einem Treffen hinter verschlossenen Türen ein, das bereits seit mehreren Wochen geplant war.

Im majestätischen Marmorsaal sitzt der Präsident etwa 15 Meter entfernt an seinem grossen weissen Schreibtisch und mustert die Männer mit Anzug und Krawatte. Die Tageszeitung Kommersant, die über das Treffen berichtet, stellt fest, dass er als Einziger nicht müde aussieht. Einige Tage zuvor hatte er in dieser Umgebung den französischen Präsidenten Macron empfangen und anschliessend in scharfem Ton eine im Fernsehen übertragene Sitzung des Sicherheitsrats geleitet, die zur Anerkennung der Unabhängigkeit der abtrünnigen Provinzen im Osten der Ukraine führte.

Trotz Sanktionen die Loyalität der Oligarchen sichern

Diesmal drang von diesem Treffen so gut wie nichts an die Öffentlichkeit. In seiner Einleitung wies Wladimir Putin darauf hin, dass das Treffen «leider» unter «zumindest ungewöhnlichen Umständen» stattfinde, und der Vorsitzende des Verbands der Industriellen und Unternehmer erklärte, dass «die russische Wirtschaft lernen muss, unter schwierigen Bedingungen und unter Berücksichtigung aller möglichen Einschränkungen zu arbeiten». Ein Euphemismus, um sich auf künftige Sanktionen vorzubereiten und sich die Loyalität der Oligarchen zu sichern, die die Hauptsponsoren von Putins kriegstreibendem Regime sind.

Zweifellos hat die kleine Kaste der Milliardäre schon einiges erlebt. In den 1990er Jahren, unter der Herrschaft von Boris Jelzin, verfügten einige der Gäste im Kreml bereits über riesige Vermögen in strategischen Sektoren wie fossile Brennstoffe, Metalle, Düngemittel und Bankwesen. Sie haben die wilden Privatisierungen überlebt, die von Enteignungen und mafiösen Abrechnungen geprägt waren. Der unverwüstliche Wladimir Potanin, Hauptaktionär des Giganten Norilsk Nickel (Nornickel) – dessen Handelsgesellschaft ihren Sitz in Zug hat – war damals bereits mit von der Partie, aber auch Piotr Aven, Gründer der Alpha Bank, Russlands grösster Privatbank. Beide gehörten zu einem kleinen Zirkel – den sogenannten «sieben Bankiers» –, der im Kreml den Ton angab. Als Geldgeber für einen Staat, der kurz vor dem Bankrott stand, erhielten sie im Gegenzug vergünstigte Aktien der lukrativsten Unternehmen des Landes.

Sie waren es auch, die die Operation «Thronfolger» vorangetrieben hatten, die darin bestand, einen Nachfolger für Präsident Jelzin zu finden, dessen Arterien vom Wodka zerfressen waren. Doch als er erst einmal auf dem Thron sass, erwies sich der als gefügig geltende KGB-Offizier Wladimir Putin als unabhängiger und rachsüchtiger als erwartet. Nach und nach wurde seine Botschaft an die Oligarchen klar: Haltet Abstand von der Politik und beugt euch der «Machtvertikale», indem ihr euer Vermögen den Herrschern zur Verfügung stellt, über Wohltätigkeitsfonds oder zur Finanzierung dieses oder jenes Programms. Im Gegenzug garantierte das Regime den Zugang zu staatlichen Aufträgen und die Möglichkeit, sich weiterhin mit fragwürdigen Methoden zu bereichern.

Kein Pardon für Widersacher

Die Oligarchen mussten tatenlos zusehen, wie Boris Berezovski, einer der ihren und Meister der Palastintrigen, nach London ins Exil geschickt wurde, wo er einige Jahre später in seinem Badezimmer Selbstmord beging. Dann wurde 2003 der Ölmagnat Michail Chodorkowski verhaftet und sein Ölimperium Yukos zerschlagen, was neue Oligarchen reich machte.

Schliesslich begannen Wladimir Putins ehemalige Genossen und Partner aus St. Petersburg aufzutauchen. Viele von ihnen haben den Geheimdienst durchlaufen, lieben Judo und patriotische Reden über die Überlegenheit christlicher Werte und die Grösse Russlands - und sind in wenigen Jahren Milliardäre geworden.

Der berühmteste unter ihnen ist Gennadi Timtschenko. Der ehemalige Trader in einer Ölraffinerie in St. Petersburg war der Öffentlichkeit völlig unbekannt, als er Anfang der 2000er Jahre mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern nach Cologny an den Genfersee zog. Der erste Artikel über ihn in der Schweiz erschien 2003 in der Westschweizer Zeitschrift L'Hebdo. Im Internet existierten damals keine Bilder von ihm. Fünf Jahre später war sein in Genf ansässiger Ölhandelskonzern Gunvor weltberühmt und exportierte fast ein Viertel des russischen Rohöls.

President Vladimir Putin of Russia poses with businessmen and billionaires Arkady Rotenberg (L) and Gennady Timchenko (C) during a Nignt Hockey League match on May 16, 2015 in Sochi, Russia © Sasha Mordovets / Getty Images
Timtschenko (hinten in der Mitte) und Putin an einem Hockeymatch.

Eine Welt bricht zusammen

Der Krieg in der Ukraine erschüttert dieses oligarchische System, das Russland zu einem der Länder macht, in denen der Reichtum extrem ungerecht verteilt ist: 1% der Bevölkerung kontrolliert mehr als 58.2% (2020, laut Credit Suisse Global Wealth Report 2021) der Vermögen. Veteranen aus der Jelzin-Ära oder neuere Kumpanen des Präsidenten werden jetzt alle als Unterstützer von Putins Krieg identifiziert. «Es reicht fast schon, Putin die Hand geschüttelt zu haben, um auf den Index zu kommen», erklärt ein Kenner dieser Kreise in Genf. Seit der ersten Salve wurden die Sanktionen immer weiter ausgeweitet und betreffen nun ganze Familien: Kinder, Ehefrauen, Schwiegersöhne usw.

Nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 hatten die USA und in geringerem Masse auch die Europäische Union (EU) die Oligarchen, die Wladimir Putin am nächsten standen, mit Sanktionen belegt. Die Schweiz, die sich hinter ihrer Neutralität und ihrer Tradition der «Guten Dienste» verschanzt hatte, war damals nicht gefolgt und hatte sich geweigert, gegen diese Milliardäre vorzugehen, die alpine Landschaften, luxuriöse Immobilien, exklusive Privatschulen und die sprichwörtliche Diskretion der hiesigen Banken so sehr lieben.

Diese schuldhafte abwartende Haltung wurde nun erschüttert, als Raketen auf die ukrainische Bevölkerung abgefeuert wurden. Am 28. Februar kündigte der Bundesrat an, alle EU-Sanktionen zu übernehmen, die sich bislang (30. März 2022) gegen 62 juristische Personen und über 874 Einzelpersonen richten, darunter Wladimir Putin, seine Minister, fast alle Abgeordneten der Duma, pro-russische Beamte aus Donezk und Luhansk sowie eine Reihe schwerreicher Geschäftsleute.

Schlaraffenland für Oligarchen

Die Entscheidung des Bundesrates wurde auf internationaler Ebene weithin begrüsst. In der Schweiz hat SVP-Übervater Christoph Blocher einmal mehr sein Gespür für subtile Rhetorik zur Schau gestellt: «Die Schweiz ist im Krieg!». Doch abgesehen von diesem politischen Gehabe im Namen der Neutralität mit weissem Kreuz rückt die Tragödie, die sich heute in Europa abspielt, einen Kampf in den Vordergrund, den die Schweiz nicht wirklich führen will: den Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität.

Seit drei Jahrzehnten dient die Schweiz (neben London) als Rückzugsort für mehrere Generationen von Oligarchen, die dem Kreml nahestehen und von Gesetzeslücken profitieren, die zweifelhafte Praktiken erleichtern. Für die Bataillone von Rechtsanwält*innen, Banker*innen, Steuerexpert*innen, Immobilienmakler*innen, Treuhänder*innen, Juwelier*innen und Uhrenhändler*innen, die in den Diensten dieser Milliardäre und ihrer Familien standen, bricht eine Welt zusammen.

Die Bankiervereinigung schätzt, dass in Schweizer Banken russische Vermögenswerte in Höhe von 150 bis 200 Milliarden Schweizer Franken lagern. Eine Zahl, die glaubwürdiger ist als die 10,4 Milliarden US-Dollar, die die Nationalbank 2020 publik machte. «Die grossen Oligarchen haben oft die doppelte Staatsangehörigkeit. Wenn man lediglich die Vermögenswerte mit dem Stempel ‹russisch› betrachtet, ergibt das nur einen kleinen Teil ihres Vermögens», erklärt ein in Genf ansässiger russischer Anwalt. Am Donnerstag, dem 24. März, gab das SECO bekannt, russisches Vermögen im Wert von 5,75 Milliarden Franken eingefroren zu haben, darunter auch Immobilien. Zum Vergleich: Bisher wurden in Frankreich und Luxemburg 850 Millionen Euro bzw. 2,5 Milliarden Euro an russischen Vermögenswerten eingefroren. Das ist kaum ein Zeichen für einen besonders grossen Eifer der Schweiz; schon eher deutet es darauf hin, dass hierzulande besonders viel russisches Vermögen liegt.

Jede Menge Fallstricke

Die Verfolgung ist schwierig. Aus diesem Grund haben die USA und die EU eine spezielle Ermittlungsgruppe eingerichtet. Russische Grossvermögende haben in der Tat mehr als einen Trick im Ärmel, um ihre Vermögenswerte zu verbergen: Strohleute; komplexe Unternehmenskonstrukte über Briefkastenfirmen, die in Steuerparadiesen registriert sind; Trusts und Stiftungen. Diese Techniken, die von Schweizer Rechtsanwält*innen schlüsselfertig verkauft werden, werden es zweifellos einigen Oligarchen ermöglichen, den Sanktionen zu entgehen.

An Anzeichen dafür fehlt es nicht. Mehrere der ins Visier genommenen Milliardäre haben bekannt gegeben, dass sie ihr Kapital abgestossen haben. Andrey Melnichenko, der seit einigen Jahren in St. Moritz ansässig ist, gibt an, keine Anteile mehr an dem Kohleriesen Suek und dem Düngemittelhersteller Eurochem zu besitzen. Über die neuen Eigentümer liegen derzeit keine Informationen vor. Eine Art Rückfall in die 1990er-Jahre, als es während der wilden Privatisierungen schwierig bis unmöglich war, herauszufinden, wem die grössten Unternehmen Russlands gehörten.

Drei Wochen nachdem Putin seine Oligarchen auf Linie gebracht hatte, war am 19. März auf dem Bundesplatz in Bern eine Woge der Solidarität zu spüren, als Wolodimir Selenski sich per Bildschirm an das Schweizer Volk wandte. Die Schweiz, ein Paradies für direkte Demokratie, sei ein Vorbild für die Ukraine.

Die Schweiz sei aber auch ein Zufluchtsort für «das Geld all derer, die diesen Krieg angezettelt haben», kritisierte der ukrainische Präsident.

Zu Recht. Putins Oligarchen sind das aktuellste Beispiel für ein Modell der wirtschaftlichen Entwicklung, das darauf beruht, reichen Individuen aus Ländern, in denen Korruption weit verbreitet ist, Zuflucht zu gewähren. Doch angesichts dieses Krieges und seiner dramatischen Konsequenzen könnte für die Schweiz die Stunde der Abrechnung oder der Reformen geschlagen haben.

Verantwortung der Schweiz Ukrainekrieg und Rohstoffhandel