«Ohne Erdöl wäre Ecuador heute besser dran»
Das Interview mit Pablo Fajardo führte Adrià Budry Carbó
Ursprünglich säuberte Pablo Fajardo als Arbeiter die Öllecks von Texaco im ecuadorianischen Amazonasgebiet. Nach einer Fusion nannte sich dieser US-Ölkonzern Chevron und verliess schliesslich das kleine Land, hinterliess der Bevölkerung als «Geschenk» jedoch eine gewaltige Umweltkatastrophe. Fajardo wurde Anwalt, um jenen zu helfen, denen niemand sonst half: den indigenen Gemeinschaften, die Opfer der ungestraft gebliebenen Vergehen der Ölindustrie wurden, die sowohl Wirtschaftsmotor des Landes als auch Totengräber seiner Institutionen ist. Public Eye sprach mit Pablo Fajardo über den Rohstofffluch, als er im Mai 2025 in Genf war, wo er sich bei der UNO für verbindliche Regeln für multinationale Konzerne einsetzte.
In Ecuador wird seit etwas mehr als 50 Jahren Öl gefördert. Wäre Ihr Land ohne Erdöl besser dran?
Bestimmt. Vor den 1970er-Jahren basierte unsere Wirtschaft auf der Landwirtschaft, die Industrie expandierte. Wir exportierten Bananen, Kaffee, viel hochwertigen Kakao, auch in die Schweiz. Mit den Rohölexporten gab Ecuador die landwirtschaftliche Nutzung praktisch auf. Die Landbevölkerung verarmte, und die Landflucht führte dazu, dass die Menschen in den Vorstädten zusammengepfercht wurden, wo sich die Kriminalität ausbreitete. Ohne Erdöl wäre Ecuador heute besser dran.
Sehen Sie eine direkte Verbindung zwischen der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der in Ecuador herrschenden Gewalt?
Ja, dies manifestiert sich auf mehreren Ebenen. Die Spitze des Eisbergs sind die Unternehmen, die kriminelle Banden anheuern, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Doch die Ausbeutung der Rohstoffe finanziert diese Banden auch. Im Amazonasgebiet zapfen sie regelmässig Pipelines an und leiten diese zu ihren Gunsten um. Zudem versorgen die Banden die Kokainindustrie im benachbarten Kolumbien mit Petrolether, einem extrem flüchtigen und explosiven Abfallprodukt der Erdölförderung, das zur Herstellung von Kokain eingesetzt wird. Die staatlichen Behörden sind sich dessen bewusst, greifen aber nicht ein. In meiner Heimatregion Sucumbíos dreht sich ein Grossteil der Gewalt um die Kontrolle des Territoriums und das Abschöpfen des Petrolethers.
 
            
    
        
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                Selena Pizarro Gómez
            
        
    
        2023 hat das Volk von Ecuador für einen Stopp der Erdölförderung im Unesco-Biosphärenreservat und Nationalpark Yasuní gestimmt. Offenbar hat die Stimmung in der Bevölkerung gedreht.
Ja und nein. Angesichts der Begeisterung unter den Jugendlichen machte der im November 2023 zum Staatspräsidenten gewählte Daniel Noboa klugerweise bei der Kampagne für ein Ende der Ölförderung mit. Noboa unterstützte die Kampagne als Kandidat, obwohl er wusste, dass er das Votum des Volkes als Präsident niemals respektieren würde. Viele Menschen glaubten ihm: 65% des Landes sagten Ja zu Yasuní und sprachen sich damit für ein Ende der Ölförderung aus. Daniel Noboa hatte ein Jahr Zeit, bis August 2024, um das Verdikt des Volkes durchzusetzen. Doch in Block 43, einem Konzessionsgebiet, das fast zur Hälfte im Nationalpark liegt, wird die Ölförderung dennoch fortgesetzt.
Kann die Justiz die Regierung nicht zwingen, das Votum des Volkes zu respektieren?
In Ecuador herrscht ein völliger Verfall der öffentlichen Institutionen. Daniel Noboa steht über allem, das Verfassungsgericht frisst ihm aus der Hand. Gerade wurden drei neue Richter*innen ernannt, darunter eine ehemalige Chevron-Anwältin. Es gibt keine Hoffnung, dass diese Instanz den verfassungsrechtlichen Rahmen durchsetzen wird. Die Staatsanwaltschaft, der staatliche Rechnungsprüfungsdienst und das Parlament stehen vollständig im Dienst der amtierenden Regierung. Es gibt kein Gleichgewicht zwischen den Gewalten mehr. Dieses Problem war noch nie so ausgeprägt wie heute.
Dennoch hat die Justiz in Ecuador 2024 ebenso wie die Bundesanwaltschaft Gunvor wegen der Zahlung von Bestechungsgeldern an Beamte verurteilt. Ist das nicht ein Beweis dafür, dass bestimmte Instanzen noch funktionieren?
Dieses Urteil lässt bei mir ein wenig Hoffnung aufkommen. Es gibt Richter*innen, die Widerstand leisten und weiterhin ihre Arbeit tun. Aber sie werden von der Regierung verklagt.
Sie haben erreicht, dass Chevron 2011 verurteilt wurde, weil das US-Unternehmen nach 26 Jahren Ausbeutung im Amazonasgebiet rund 1000 offene Gruben mit Rohöl und giftigem Klärschlamm hinterlassen hatte. Dieses Urteil wurde 2018 vom Verfassungsgericht ratifiziert. Sie kämpfen dennoch weiter?
Ja, denn es fehlen zum Beispiel verbindliche Standards, an die sich die Unternehmen halten müssen. Das erleichtert es den Konzernen, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen, insbesondere im Bereich der Menschenrechte oder des Schutzes der Umwelt und der indigenen Gemeinschaften. Es gibt sogar private Schiedsgerichte, welche die Investitionen dieser Unternehmen schützen. Dadurch können Staaten verurteilt werden, die sich nicht an die Weisungen der multinationalen Konzerne halten. Der Fall Chevron reiht sich in diese Problematik ein.
Wie ist das zu verstehen?
Der Schiedsspruch wurde unmittelbar nach dem Urteil des Verfassungsgerichts gefällt. Darin stehen Dinge, die völlig gegen das Gesetz verstossen, wie die Aufforderung an die Regierung, den Schiedsspruch nicht umzusetzen. Stellen Sie sich vor, ein Schiedsgericht würde in der Schweiz den Bund auffordern, ein Urteil aufzuheben – das ist absurd! Der Schiedsspruch fordert den ecuadorianischen Staat ausserdem auf, 2 Milliarden US-Dollar für Verfahrenskosten und immateriellen Schaden zu zahlen, der Chevron in 25 Jahren Gerichtsverfahren entstanden sein soll. Dies ist der heikelste Punkt, denn unsere Verfassung verbietet dem Staat, sich internationalen Schiedsgerichten zu unterwerfen, was in einem nationalen Referendum im April 2024 bestätigt wurde. Doch Präsident Noboa zahlt lieber Chevron aus, als dass er das nationale Recht durchsetzt. Wir versuchen, diese Zahlung zu blockieren. Verfügt der Staat über solche Mittel, soll er sie nutzen, um Chevrons Schäden im Amazonasgebiet zu minimieren.
Was halten Sie von der zweiten Konzernverantwortungsinitiative, die in der Schweiz ohne Mühe die benötigten 100'000 Unterschriften erreicht hat?
Ich bin davon überzeugt, dass der Kampf sich nicht auf die Länder beschränkt, in denen die multinationalen Konzerne tätig sind, sondern auch ihre Herkunftsländer betrifft. Die Industriestaaten müssen verlangen, dass die Konzerne ethischer handeln; das ist eine moralische Pflicht! Schweizer Banken sind zum Beispiel massiv in Chevron investiert, ebenso wie europäische Pensionskassen. Am vernünftigsten wäre es, wenn die Bevölkerung der Schweiz von ihren Banken und Rohstoffhändlern verlangen würde, weltweit verantwortungsvoller zu handeln. Es gibt keinen Grund, warum das Recht auf saubere Luft – welche die Schweizer Bevölkerung geniesst – nicht auch in Lateinamerika, Afrika oder Asien gelten sollte. Warum gelten für die Schweizer Konzerne zwei Standards?
Der Journalist und Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio, der auch Whistleblower im Bestechungsfall Gunvor war, wurde im August 2023 während einer Wahlveranstaltung ermordet. Auch Ihr Bruder wurde ermordet. Woher nehmen Sie den Mut, weiterzumachen?
Von den direkt betroffenen Gemeinschaften. Als Aktivist habe ich zumindest ein Forum, in dem ich trotz der Risiken meine Stimme erheben kann. Aber viele Menschen sterben still und leise. In einem solchen Klima der Ungerechtigkeit bleiben einem nur wenige Optionen: sich mit den Tätern zu verbünden, zu schweigen oder die Omertà zu brechen. Schweigen ist für mich keine Option.