Fichenskandal 3.0: Public Eye steht beim Nachrichtendienst unter Extremismusverdacht

431 Einträge umfasst die Akte von Public Eye, welche der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) bis Anfang 2021 angesammelt hat. Wie ein Rechtsgutachten zeigt, hat der Geheimdienst dabei systematisch gesetzliche Schranken übertreten und die demokratischen Grundrechte von Public Eye verletzt. Obwohl der Geheimdienst also heute schon Gesetze missachtet, will ihm der Bundesrat weitere Kompetenzen und schärfere Instrumente geben – eine brandgefährliche Entwicklung für die Schweiz.

Auf parlamentarische Nachfrage liess der Bundesrat vor einem Monat noch verlauten, der NDB beschaffe nur Daten, «die der Erfüllung seiner im Gesetz klar definierten Aufgaben dienen». Diese drehen sich um den Schutz der Schweiz vor Gewaltextremismus, Terrorismus und Spionage. Unsere fette Fiche zeigt aber: Der NDB sammelt systematisch Daten zu Organisationen wie Public Eye, obwohl ihm das Nachrichtendienstgesetz die Überwachung politischer Tätigkeiten explizit verbietet. Ein von Public Eye in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten kommt deshalb zum Schluss, dass diese «Praxis des NDB nicht mit den rechtlichen Vorgaben im Einklang steht (…). An die Schranken, welche die Bundesverfassung, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Nachrichtendienstgesetz (NDG) für die Datenerfassung und -bearbeitung vorgeben, hat sich der NDB nicht gehalten.»

Ausschlaggebend für die staatliche Beobachtung von Public Eye war deren Klassifizierung als Teil der «globalisierungkritischen Bewegung». Die Fiche enthält mehrere Einträge mit Bezug zu «Linksextremismus». Unterstellt wird zudem, dass sich die Organisation vor allem bei ihren WEF-kritischen Aktivitäten nicht von allfälligen Vandalenakten distanziert habe. Die Davoser Gegenveranstaltung «Public Eye Awards» hätte gewaltbereite Kreise sogar zu Aktionen gegen nominierte Firmen «inspirieren» können, etwa Farbanschläge auf Gebäude. All diese Mutmassungen kommen ohne jegliche Fakten oder plausible Begründungen aus. So hat der NDB aus Globalisierungskritiker*innen potenzielle Staatsfeinde gemacht. Eine lebendige Demokratie braucht jedoch nicht nur politische Debatten, sondern auch die Sicherheit, dass die Ausübung politischer Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit keine negativen Konsequenzen haben – weder für Organisationen noch für Privatpersonen. 

Das vom Grundrechtsexperten Viktor Györffy verfasste Gutachten warnt deshalb «vor zu vage und offen formulierten gesetzlichen Bestimmungen», weil sie den Behörden einen zu grossen Spielraum geben. Die Bürger*innen könnten dadurch von der Ausübung ihrer Grundrechte abgeschreckt werden. Mit der anstehenden Revision des Nachrichtendienstgesetzes nimmt dieser «chilling effect» weiter zu, sollen darin die Befugnisse des NDB doch – statt endlich beschränkt – noch mehr ausgeweitet werden. Für politisch engagierte Menschen in diesem Land wie Klimaaktivis*innen, NGO-Mitarbeitende oder progressive Parlamentarier*innen sind das schlechte Aussichten. Sollte die Revisionsvorlage unverändert angenommen werden, dürfte die auf Partizipation beruhende Kultur der direkten Schweizer Demokratie weiteren politischen Schaden nehmen. 

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