Der nackte Kaiser von Davos
Oliver Classen, 26. Mai 2025
Das erste Mal beerdigt wurde das «jährliche Globalisierungsfestival» (Financial Times) bei der letzten Durchführung der «Public Eye Awards» anno 2015, und zwar ganz offiziell von den Yes Men. Ihren Bericht über den symbolischen Trauerakt umrahmte die SRF-Tagesschau damals mit einer Rückschau auf die globalisierungskritische Bewegung und deren seit der Jahrtausendwende in verschiedensten Formen und Foren inszenierten Protest gegen das WEF, die Mutter aller Lobbyorganisationen des Neoliberalismus.
Schwab versuchte diesen programmatischen Gegenwind von der Strasse (zum Beispiel am «Open Forum») systematisch in die eigenen Segel zu lenken. Auch dank den vielen NGO-Vertreter*innen, die sich alljährlich im Davoser Kongresszentrum versammelten, blieb diese Umarmungsstrategie nicht ohne Erfolg.
Auch staatskritische Kreise haben sich jahrelang am mythenumrankten WEF abgearbeitet. Verschwörungstheoretiker*innen witterten im Eliteklub schon bald nach dessen Gründung eine Geheimloge der Mächtigen aus Politik und Wirtschaft, die in Davos die Versklavung der Menschheit und die Übernahme der Weltherrschaft planen. Vorläufiger Höhepunkt dieser abstrusen Befürchtungen war Schwabs 2020 publiziertes Buch «The Great Reset», das als Entwurf einer neuen politischen Wirtschaftsordnung interpretiert wurde, die – vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie – auf die totalitäre Kontrolle der Bevölkerung abzielt. Die damalige Welle der Empörung liess sogar die NZZ nach deren Hintergründen fragen.

Doch weder Ideologiekritik noch Konspirationswahn konnten Klaus Schwab und seinem Geschäftsmodell, von dem ein Journalistenkollege einmal nicht zu Unrecht behauptete, es beruhe auf dem Austausch von Handschweiss, wirklich gefährlich werden. Erst die in zwei Tranchen präzis – nämlich beim einflussreichen Wall Street Journal (WSJ) – platzierten Vorwürfe eines/r Whistleblower*in brachten ihn erst ins Wanken und dann in jenen freien Fall, der im Rausschmiss durch den eigenen Stiftungsrat mündete. Die von Schwab zurückgewiesenen Vorwürfe wiegen schwer: Selbstbereicherung, Klientelwirtschaft und Mobbing. Der Fisch vom Genfersee, wo sich der WEF-Hauptsitz befindet, stank zwar schon lange am Kopf. Aber in seinen Eingeweiden rumorte es erst jetzt so stark, dass der Ärger über die Willkür des Alleinherrschers ein Ventil brauchte. Die wirksamste Kritik kommt halt immer noch von innen.
Klar: Der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität dieser selbsternannten Weltverbesserungsanstalt war schon vorher legendär. Dass dem schwäbischen Schwurbler (Schwab stammt aus Ravensburg) nun aber ausgerechnet das Herzstück seines Stakeholder-Managements um die Ohren fliegt, ist die besondere Ironie dieser grössten Krise in der 55jährigen WEF-Geschichte. Im Zentrum von Schwabs Theorie eines Kapitalismus, der die Bedürfnisse aller Interessengruppen und der Gesellschaft insgesamt berücksichtigt, steht nämlich das Konzept der «Good Governance». Anders gesagt: Beim von ihm mitvertretenen ESG-Ansatz (Environmental, Social, Governance) kommt das grosse «G» immer zuerst. Denn ohne integre Unternehmensführung auch keine ökologische und soziale Verantwortung.
Der/die Whistleblower*in hat also genau jenen Stein aus Schwabs Lebenswerk gezogen, der nun das ganze Theoriegebäude zum Einsturz zu bringen droht. Die bitterste aller Ironien dabei: Letzten September, also ziemlich genau zwischen dem ersten und dem zweiten WSJ-Scoop, publizierte das WEF noch eine Studie zur «Business Integrity». In diesem «Toolkit for Medium-Sized Enterprises» (was Schwabs Familienunternehmen inzwischen ja auch ist) geht es neben Korruptionsprophylaxe und der Vermeidung von Interessenkonflikten auch explizit um den «Umgang mit internen Beschwerden». Transparenz, Zugänglichkeit und vor allem Rechenschaftspflicht: Das Verhalten des Patrons widerspricht dem eigenen Programm auch hier in jedem einzelnen Punkt.
Eitelkeit und Hochmut führen zu Realitätsverlust und Selbstentblössung: Nirgends wird dies schöner beschrieben als in «Des Kaisers neue Kleider». Nun steht der Kaiser von Davos nackt vor der Weltöffentlichkeit. Zu verdanken haben wir seine überfällige Demaskierung nicht – wie im Märchen – dem sprichwörtlichen «Kindermund tut Wahrheit kund», sondern einem couragierten Insider. Und natürlich betrifft dessen Enthüllung nicht nur die inkriminierte Person, sondern auch die von ihm bis ins Mark geprägte Institution. Doch ich wäre überrascht, würde das WEF daraus eine andere Lehre ziehen als: Ist die Glaubwürdigkeit erst ruiniert, lobbyiert sich’s gänzlich ungeniert.

«Als Spin Doktor und Schreiberling weiss ich: Die Wahrheit ist ein Näherungswert, keine Ansichtssache. Guter Journalismus weiss und zeigt das.»
Oliver Classen ist seit über zehn Jahren Mediensprecher von Public Eye. Zudem schrieb er am Rohstoff-Buch mit und koordinierte mehrere Jahre die Public Eye Awards (2000-2015) in Davos. Vorher arbeitete er für verschiedene Zeitungen, darunter die Handelszeitung und der Tagesanzeiger.
Kontakt: oliver.classen@publiceye.ch
LinkedIn: @Oliver Classen
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