Vittel für die Vittellois

Nestlé gräbt einer kleinen französischen Gemeinde das Wasser ab und verkauft es teuer im Ausland. Jetzt erhält die lokale Bürgerbewegung internationale Unterstützung im Kampf gegen den Lebensmittelmulti.

Die Gemeinden Vittel und Contrexéville sind schmucke Kurorte in den Vogesen, berühmt für ihre sprudelnden Mineralwasserquellen. Aber Susan Glasauer, Karen Rathwell und Franklin Frederick sind nicht angereist, um zu wellnessen. Sie sind auf Einladung des Collectif Eau 88 da, das am 12. Februar ein Bürgerforum gegen die Wassergeschäfte von Nestlé organisierte.

Der Grund: Der Schweizer Nahrungsmittelmulti zapft unter den beiden französischen Gemeinden Grundwasserquellen an. Rund 750‘000 Kubikmeter jährlich, also etwa 750 Millionen Liter, extrahiert die Firma und verkauft sie im nahen Ausland. Das knallige rot-weisse Etikett von Vittel verheisst Vitalität, das sportliche rosafarbene Label von Contrex soll die figurbewusste Dame ansprechen.

Der intensive Verbrauch von Nestlé und einem lokalen Käsehersteller, der die Quellen ebenfalls nutzt, übersteigt bei weitem, was durch natürliche Versickerung durch Regenwasser ausgeglichen werden könnte. Bei gleichbleibender Nutzung würde die Quelle Bonne Source wohl bis 2050 versiegen.

Fantasievolle Wasserkommission

Seit 1992, als Nestlé in der Gegend aktiv wurde, sinkt der Grundwasserspiegel rapide. Heute ist er ganze zehn Meter tiefer als noch vor vierzig Jahren. Deswegen sah sich die lokale Wasserversorgungskommission vergangenen Sommer gemüssigt, eine Lösung für das Problem zu finden. Und um die Vitalität und Sportlichkeit der Flaschenwasser-Konsumenten und –Konsumentinnen nicht zu gefährden, kam die Komission zu einer äusserst fantasievollen Lösung: Die Bewohner und Bewohnerinnen von Vittel und Contrexéville sollen ihr Wasser in Zukunft nun eben aus einem Nachbarort beziehen.

Dafür soll ein Rohrleitungssystem von insgesamt bis zu 50 Kilometern Länge gebaut werden. Nestlé werde sich freundlicherweise finanziell an dieser Pipeline beteiligen. Hauptsache, sie hat weiterhin das Vorrecht am Grundwasser der Gemeinden – vor den Menschen, die dort leben.

Die ehemalige Präsidentin der Wasserkommission ist übrigens mit einem hohen Kadermitglied von Nestlé verheiratet. Gegen sie laufen zurzeit Ermittlungen: Die Staatsanwaltschaft vermutet illegale Interessensvertretung. Aber die Interessen des Schweizer Konzerns werden auch von anderen Politikern vertreten: Der Konzern argumentiert schliesslich schlagkräftig mit Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen für eine Sonderbehandlung.

Die Spitze der Absurdität

Im Dezember 2018 forderten 400 Bewohner und Bewohnerinnen der 5000-Seelen-Gemeinde ein Mitspracherecht für das Pipeline-Projekt. Zurzeit organisieren sie zahlreiche Workshops und Debatten zum Thema. Dabei ist die Pipeline nur die Spitze der Absurdität, oder um ein laues Wortspiel zu benutzen: Sie hat das Fass für die Bevölkerung zum Überlaufen gebracht.

Das gesamte Wassergeschäft von Nestlé steht für eine völlig aus den Bahnen geratene Wirtschaft. Die Privatisierung und Übernutzung von lokalen Wasserquellen durch den Schweizer Konzern ist für zahlreiche Gemeinden bereits Realität, etwa in Südafrika oder Brasilien. Flaschenwasser gehört zum Kerngeschäft von Nestlé. Der Konzern macht damit fast acht Miliarden Franken Umsatz und besitzt nebst Vittel noch fünfzig andere Flaschenwasser-Marken.

Neu an der ganzen Sache mit Vittel ist, dass sich der Skandal und der lokale Widerstand nicht weit weg vom Nestlé-Hauptsitz, sondern direkt hinter der Schweizer Grenze abspielt.

Globaler Konzern – globale Proteste

Das Collectif Eau 88 hat die internationalen Aktivisten eingeladen, ihre Erfahrungen mit der Wasserextraktion von Nestlé in anderen Ländern zu teilen. Die beiden Kanadierinnen, die an dem Bürgerforum in Vittel teilgenommen haben, sind Mitglieder der Wellington Water Watchers, die sich seit 2007 gegen die Pumplizenzen für Nestlé im kanadischen Staat Ontario einsetzen. Franklin Frederick wiederum kritisiert seit Jahrzehnten die Wasserentnahme durch den Schweizer Multi in Brasilien.

Auf einen global agierenden Konzern muss man global reagieren können. Am Treffen der Wasserrechtler in Vittel sieht man, wie das gehen könnte. Die Wasserkommission von Vittel wiederum veranschaulicht, wie wenig die Regierungen ihre Pflicht, Menschenrechte zu schützen, ernst nehmen. Denn Wasser ist ein Menschenrecht und kein kommerzielles Gut.

2020 läuft die Lizenz für das Abpumpen des Quellwassers in Vittel und Contrexéville aus, die Nestlé 1990 erhalten hat. Würde diese Lizenz nicht erneuert, hätte das eine internationale Signalwirkung, die sich auch auf die globale Wasserpolitik von Nestlé auswirken würde. Und auf Bürgerbewegungen in Gemeinden von Brasilien bis Südafrika, von Kanada bis Frankreich.

Alice Kohli, Rechercheurin

„Wo gehobelt wird, fallen Späne – und ich stolpere bei meinen ausgiebigen Recherchen fast täglich über kleine, feine Geschichten, die man einfach kurz erzählt haben muss.“

Alice Kohli ist Rechercheurin bei Public Eye und sucht in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft, Textil und Handel nach den dunklen Geheimnissen Schweizer Unternehmen. Sie arbeitete zuvor als Journalistin für die NZZ, wo sie zuletzt das Datenrecherche-Team leitete, und für verschiedene andere Medienhäuser in der Schweiz und in Deutschland.

Kontakt: alice.kohli@publiceye.ch
Twitter: @AliceKohli

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