Taugt die aufgeschobene Strafverfolgung in der Schweiz gegen Wirtschaftskriminalität?

Mouna Algelly, 10. Juni 2025
In den USA können Behörden die Anklageerhebung gegen ein Unternehmen aufschieben, wenn dieses im Gegenzug bestimmte Verpflichtungen eingeht. Dafür braucht es ein «Deferred Prosecution Agreement» (DPA), also eine Vereinbarung über eine aufgeschobene Strafverfolgung. Wenn das Unternehmen die Auflagen innerhalb der Bewährungsfrist erfüllt, wird die Strafverfolgung eingestellt. Das DPA wurde Ende der 1990er Jahre im US-amerikanischen Recht eingeführt und hat sich dort zu einem zentralen Instrument bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von Unternehmen entwickelt.
Eine Reihe brisanter Fälle machte das DPA auch in der Schweiz einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, so jener der UBS im Jahr 2009. Die Grossbank wurde beschuldigt, Privatpersonen in den USA die Hinterziehung von Steuern ermöglicht zu haben. In der Folge schloss das Institut mit dem US-Justizministerium (Department of Justice, DOJ) ein DPA ab. Darin erklärte sich die UBS AG bereit, der US-Regierung die Identität und die Bankdaten von bestimmten betroffenen Kund*innen offenzulegen; weiter musste die Bank künftig darauf verzichten, Dienstleistungen an Inhaber*innen nicht deklarierter Konten zu erbringen; schliesslich kam noch eine Geldstrafe in Höhe von 780 Millionen US-Dollar dazu. Es war diese Vereinbarung, die das Ende des Bankgeheimnisses für ausländische Kunden in der Schweiz einläutete.
In letzter Zeit haben diverse europäische Staaten ähnliche Regelungen eingeführt. Beispiele hierfür sind die Convention judiciaire d’intérêt public (CJIP) in Frankreich oder das DPA in Grossbritannien.
In der Schweiz hat die Bundesanwaltschaft (BA) 2018 die Einführung einer aufgeschobenen Anklageerhebung vorgeschlagen, die mit dem US-amerikanischen DPA vergleichbar ist. Demnach würde die Vereinbarung zwischen den Behörden und dem beschuldigten Unternehmen den beanstandeten Sachverhalt sowie Sanktionen und Massnahmen finanzieller Art (Geldbusse, Beschlagnahme, Einziehung und/oder Ersatzforderung) umfassen. Zivilrechtliche Ansprüche der klagenden Partei wären ebenfalls berücksichtigt.
Weiter würde eine solche Vereinbarung Massnahmen zur Behebung der organisatorischen Mängel auferlegen, aufgrund derer das Unternehmen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. Dazu gehört insbesondere die Möglichkeit eines Monitorings, das die Begehung weiterer Straftaten verhindern soll. Nach einer festgelegten Bewährungsfrist würde das Verfahren eingestellt, sofern das Unternehmen die auferlegten Bedingungen erfüllt hat. Andernfalls würde vor Gericht Anklage erhoben werden. Die Vereinbarung würde nur die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen gemäss Art. 102 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) betreffen: Sie würde also nicht für natürliche Personen gelten, die im Unternehmen beschäftigt sind oder mit ihm in Verbindung stehen. Der Bundesrat liess sich von diesem Vorschlag jedoch nicht überzeugen.
Nun kommt das Thema der aufgeschobenen Anklageerhebung mit einem vom Bundesrat angenommenen Postulat der Rechtskomission des Ständerats wieder auf den Tisch: Verlangt wird die Prüfung eines solchen Mechanismus in einer Form, die der Schweizer Rechtsordnung entspricht. Der Entwurf der BA aus dem Jahr 2018 könnte dabei als Inspiration dienen. Der Ständerat wird die Debatte Mitte Juni in seiner Sommersession führen.
Ein «pragmatisches» Instrument zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität
Die Gründe, die für die Einführung der aufgeschobenen Strafverfolgung genannt werden, haben insbesondere mit dem Wesen der Wirtschaftskriminalität zu tun: Korruption oder Geldwäscherei erfolgen grundsätzlich geheim und verdeckt, Verstösse sind schwer nachzuweisen.1 Der angerichtete Schaden kann indirekt oder schwer zu bestimmen sein, er betrifft teils Bevölkerungsgruppen im Ausland oder tritt erst lange nach der Tat zu Tage. Die grenzüberschreitende Beweiserhebung hängt von der internationalen Rechtshilfe ab und gestaltet sich oftmals schwierig. Die Mittel der Staatsanwaltschaften sind begrenzt bis unzureichend, während betroffene Unternehmen teilweise über ungleich grössere Ressourcen verfügen. Ein weiteres Problem ist der mangelhafte Schutz von Whistleblower*innen in der Schweiz, so dass diese wichtige Informationsquelle tendenziell nicht zur Verfügung steht. Und schliesslich ist die im erwähnten Art. 102 StGB definierte strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen schwer anwendbar, dies aufgrund der vom Gesetzgeber formulierten und von der Rechtsprechung ausgestalteten Einschränkungen.
Unter den Verfahren, die trotz dieser Hürden zur Verurteilung eines Unternehmens führen, wird eine Mehrheit per Strafbefehl erledigt (Art. 352 ff. der Schweizerischen Strafprozessordnung StPO). Dieses Verfahren ist eine Art Urteilsvorschlag der Staatsanwaltschaft, der rechtskräftig wird, sofern der Beschuldigte keine Einsprache erhebt. Die Staatsanwaltschaft kann einen Strafbefehl erlassen, wenn der Sachverhalt eingeräumt oder erstellt wurde und eine Busse erforderlich ist. In der Praxis geschieht dies in der Absicht, die Angelegenheit ohne Gerichtsprozess zu regeln, mit der Hoffnung, gewissermassen eine Verständigung mit der beschuldigten Partei zu erzielen.2 Der Strafbefehl erfolgt somit ohne öffentliche und kontradiktorische Verhandlung.3 Ursprünglich war der Strafbefehl für leichte bis mittelschwere Straftaten gedacht. Seine Verwendung in Fällen von Wirtschaftskriminalität von Unternehmen, die zu Bussen in Millionenhöhe führen, ist in der Rechtswissenschaft umstritten.4
Der Strafbefehl kann zwar als eine Form der «Verhandlungsjustiz»5 betrachtet werden, er führt aber trotzdem zu einer strafrechtlichen Verurteilung. Hier liegt ein Hauptunterschied zum Instrument der aufgeschobenen Strafverfolgung, denn dieses vermeidet eine Verurteilung mit ihren negativen Folgen (Reputationsschäden, Ausschluss vom internationalen öffentlichen Beschaffungswesen, Verlust von Lizenzen in bestimmten Branchen). Diese Vorteile müssen allerdings relativiert werden, da eine Verurteilung der Unternehmensorgane auch bei der aufgeschobenen Strafverfolgung möglich bleibt. Dennoch haben die Vorzüge zum Ziel, die Selbstanzeige und proaktive Zusammenarbeit der Unternehmen zu fördern und so die schwierige Aufgabe der Behörden zu erleichtern.
Aus der Sicht der Befürworter*innen ist die aufgeschobene Anklageerhebung somit eine pragmatische Lösung, die nicht nur die Effizienz der Justiz in einem komplexen Rechtsgebiet erhöht, sondern auch die tatsächliche Zahlung der verhängten Geldstrafen sicherstellt.
Das öffentliche Interesse als Richtschnur
Wie andere Instrumente der Verhandlungsjustiz, die eine Einigung mit der Justiz beinhalten, beeinträchtigt die aufgeschobene Strafverfolgung jedoch grundlegende Rechtsgrundsätze wie die Gleichbehandlung und die Transparenz der Justiz. Indem das beschuldigte Unternehmen über die angelasteten Straftaten verhandeln kann, werden die Untersuchungsmaxime und die Verbindlichkeit der Strafverfolgung in Frage gestellt, wonach die Strafbehörde die materielle Wahrheit ermitteln und sämtliche Straftaten verfolgen muss, von denen sie Kenntnis hat und für die ein hinreichender Verdacht besteht.6 Da die aufgeschobene Strafverfolgung nur Unternehmen offensteht, kann auch der Eindruck entstehen, dass diese eine Vorzugsbehandlung geniessen, was der Legitimität des Justizsystems schadet.
Diese Mängel müssen jedoch im Verhältnis zu den Grenzen des aktuellen Systems betrachtet werden. Bereits heute gibt es teilweise Formen von Verhandlungsjustiz (Strafbefehl, abgekürztes Verfahren): Sie führen zwar zu einer strafrechtlichen Verurteilung, sehen aber keine Massnahmen zur Beseitigung der Mängel vor, welche die Straftat überhaupt erst ermöglicht haben. Zudem ist der Anwendungsbereich von Art. 102 StGB, der die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen regelt, derzeit sowohl theoretisch als auch praktisch begrenzt. Auch haben die Strafbehörden teils Schwierigkeiten, die gegen Unternehmen verhängten Geldstrafen einzutreiben.
Vor diesem Hintergrund könnte ein spezielles System der aufgeschobenen Strafverfolgung für Wirtschaftskriminalität von Unternehmen tatsächlich dazu führen, dass die strafrechtliche Antwort auf diese Straftaten verstärkt wird. Bei einer durchdachten Ausgestaltung würde dieses Instrument den rechtlichen Rahmen klären und verhindern, dass andere Rechtsinstitute, wie der Strafbefehl, für Absprachen in grossen Fällen missbraucht werden. Damit würden sich wiederum die Transparenz, Berechenbarkeit und Sicherheit des Rechtssystems verbessern.
Aus der Sicht von Public Eye ist eine aufgeschobene Strafverfolgung für Wirtschaftskriminalität von Unternehmen in der Schweiz nur dann akzeptabel, wenn das öffentliche Interesse stets an oberster Stelle steht. Das Instrument muss in erster Linie darauf abzielen, die Praxis der Unternehmen nachhaltig zu verbessern sowie die Geschädigten wirksam zu entschädigen. Hier die sechs Kriterien, die aus Sicht von Public Eye für eine erfolgreiche Umsetzung der aufgeschobenen Strafverfolgung unverzichtbar sind.
Weitere Informationen
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Begrenzter Anwendungsbereich
Wie oben dargelegt, weicht die aufgeschobene Strafverfolgung von grundlegenden Rechtsgrundsätzen ab. Es braucht daher klare und transparente Kriterien zur Entscheidung, wann ein solches Verfahren gerechtfertigt ist und wann nicht.
Eine Vereinbarung zur aufgeschobenen Strafverfolgung darf nur im Fall von internationaler Wirtschaftskriminalität von Unternehmen geschlossen werden. Die oben beschriebenen Besonderheiten dieser Straftaten können für die Nutzung eines solchen Instruments sprechen. In Frankreich kritisiert die Zivilgesellschaft allerdings, dass die Convention judiciaire d’intérêt public (CJIP) auch in Bereichen angewendet wird, in denen es nicht gerechtfertigt ist.
Auch muss definiert werden, unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen von einer solchen Verhandlungslösung profitieren kann. Unabdingbar scheint eine vorbehaltlose und ehrliche Kooperation des Unternehmens. Da die aufgeschobene Anklageerhebung auf eine dauerhafte Verbesserung der Praktiken des Unternehmens abzielt, sollten «rückfällige» juristische Personen davon ausgeschlossen sein. Das Kriterium der Selbstanzeige, das bei der Kronzeugenregelung im Schweizer Kartellrecht gilt, könnte auch hier zur Anwendung kommen.
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Richterliche Überprüfung
Entscheidend ist eine richterliche Überprüfung der Vereinbarung zwischen Staatsanwaltschaft und Unternehmen, wie sie auch im abgekürzten Verfahren vorgesehen ist (Art. 358 ff. StPO). Dieser Schritt ermöglicht eine gerichtliche Kontrolle der Rechtmässigkeit und Ordnungsmässigkeit der Vereinbarung sowie eine gewisse Transparenz. So sieht beispielsweise die britische Regelung vor, dass das Gericht prüfen muss, ob eine Vereinbarung « im Interesse der Justiz » getroffen wurde und ob die Bedingungen «fair, angemessen und verhältnismässig» sind.
Das Gericht sollte gegebenenfalls befugt sein, die vorgeschlagene Vereinbarung abzulehnen und den Fall zur ordentlichen Verhandlung oder an die Staatsanwaltschaft zu überweisen, je nachdem, wie weit die Voruntersuchung fortgeschritten ist. Wie gross der Ermessensspielraum bei der richterlichen Überprüfung sein soll und welche Anforderungen für die Begründung der Gutheissung oder Ablehnung gelten, muss geklärt werden.
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Transparenz und Information
Entscheidend ist auch die Frage, wie transparent eine Vereinbarung zur aufgeschobenen Anklageerhebung sein muss. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen ist ein Kerngrundsatz der Strafjustiz (Art. 69 ff. StPO). Als Grundrecht der Parteien schützt sie vor einer geheimen «Kabinettsjustiz». Aber auch die Allgemeinheit hat ein Recht auf offene Verhandlungen, welche eine transparente Verwaltung gewährleisten und zu fairen Verfahren beitragen.7 Diese Dimension wird durch das Dispositiv der aufgeschobenen Strafverfolgung untergraben, bei dem keine kontradiktorischen und öffentlichen Verhandlungen stattfinden.
Bei einer aufgeschobenen Anklageerhebung müssen mindestens die Endversion der Vereinbarung, die Bedingungen für die Aussetzung der Strafverfolgung und der Sachverhalt veröffentlicht werden, wie von der BA vorgeschlagen. Gegebenenfalls ist auch der Monitoring-Bericht zu publizieren, der die Einstellung der Strafverfolgung begründet. Diese Dokumente müssen begründet und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.8 Die Anhörungen zur Bestätigung der Vereinbarungen durch das Gericht sowie die endgültige Entscheidung müssen ebenfalls veröffentlicht werden.
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Ausschluss von natürlichen Personen
Der Umgang mit natürlichen Personen, die im Unternehmen angestellt sind, insbesondere mit den Gesellschaftsorganen und ihren Vertreter*innen, ist umstritten.
Sind diese von Verfahren der Verhandlungsjustiz ausgeschlossen, könnten Unternehmen deren Interessen übergehen und ihre eigenen Verfehlungen auf sie abwälzen, befürchten einige Rechtsexpert*innen.
Aus Sicht von Public Eye dürfen natürliche Personen auf keinen Fall Vereinbarungen über eine aufgeschobene Strafverfolgung treffen können. Diese Ansicht teilt auch der Bundesanwalt: Für ihr wäre es «völlig inakzeptabel», Angestellte in eine solche Regelung einzubeziehen, da dies darauf hinauslaufen würde, «die Justiz zu kaufen». Ein Teil der Rechtswissenschaft und der Zivilgesellschaft ist zudem der Meinung, dass eine Vereinbarung mit einem Unternehmen nur dann abschreckend wirkt, wenn gleichzeitig angestrebt wird, Einzelpersonen für ihre Beteiligung an oder ihre Duldung von Straftaten zur Verantwortung zu ziehen.9 Dies soll eine Kultur der Straflosigkeit zurückdrängen und solidere interne Präventionssysteme fördern.10 Zudem gebietet das Interesse der Justiz in vielen Fällen, dass die Fakten in einem öffentlichen Gerichtsprozess dargelegt werden. Daher haben Frankreich und Grossbritannien natürliche Personen aus dem Anwendungsbereich ihrer jeweiligen Mechanismen ausgeschlossen.
Sind natürliche Personen von Vereinbarungen über eine aufgeschobene Strafverfolgung ausgenommen, wirft dies jedoch Fragen zu den betroffenen Individuen auf: Die Rechte der Arbeitnehmenden müssten gewahrt werden, insbesondere bezüglich Verwertung von Beweismitteln, die im Rahmen der Verhandlungen mit Unternehmen erlangt wurden. Auch müssen die tatsächlichen Entscheidungsträger gefunden werden, damit nicht einfach untergeordnete Angestellte als Sündenbock dienen müssen.
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Abschreckende Strafen
Ein Instrument der aufgeschobenen Strafverfolgung muss mit abschreckenden Sanktionen einhergehen. In dieser Hinsicht wird der Höchstbetrag von 5 Millionen Franken, der nach Artikel 102 StGB als Busse verhängt werden kann, stark kritisiert, sowohl auf internationaler Ebene als auch in der Schweiz. Verglichen mit den oft beträchtlichen Erlösen in internationalen Korruptionsfällen und mit den Umsätzen einiger betroffener Konzerne ist dieser Betrag in vielen Fällen tatsächlich lächerlich klein.
Eine Busse, die prozentual zum Umsatz des Unternehmens festgelegt wird, wäre eine denkbare Option. In Frankreich sieht die CJIP-Regelung beispielsweise eine maximale Geldbusse von 30 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes vor. Das Schweizer Kartellrecht definiert ebenfalls eine prozentuale Busse (Art. 49a KG).
Die Behörden müssen für eine konsequente Umsetzung sorgen, um Auswüchse zu vermeiden, wie sie in anderen Rechtsordnungen zu beobachten waren, wo die Höhe der Geldstrafen der Schwere des Falles teilweise nicht angemessen war. Ausserdem müssen Massnahmen zur Mängelbehebung mit wirksamen Kontrollmechanismen versehen werden, um zu verhindern, dass Verpflichtungen nicht umgesetzt werden oder ihre Umsetzung nicht kontrollierbar ist.
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Effektiver Verfahrenszugang und konkrete Entschädigung für Geschädigte
Die konkrete Entschädigung und effektive Beteiligung der Geschädigten muss eine Grundvoraussetzung für jeden Mechanismus der ausgehandelten Strafjustiz sein. Transnationale Korruption ist kein Verbrechen ohne Opfer, man kann es nicht oft genug wiederholen. Es braucht ein Bewusstsein für die verheerenden Auswirkungen, welche die Wirtschaftskriminalität für ganze Bevölkerungsgruppen hat, denen dadurch erhebliche Ressourcen entzogen werden.
Bei der internationalen Wirtschaftskriminalität sind der Zugang zum Verfahren und die Entschädigung von Geschädigten in vielerlei Hinsicht schwierig. Zunächst einmal müssen die geschädigten Personen oder Akteure identifiziert werden. Sind öffentliche Stellen in die Korruption verwickelt, so gilt der Staat, dessen Beamten bestochen wurden, als Geschädigter.11 Die Rolle der Bevölkerung geschädigter Staaten ist weniger klar. Diese kann oft nur hoffen, dass ihre Vertreter*innen ihre Rechte tatsächlich verteidigen können – und dies auch wollen.
Diese Hürde könnte überwunden werden, indem im Schweizer Recht die Möglichkeit eingeführt wird, dass Organisationen der Korruptionsbekämpfung am Strafverfahren teilnehmen können, um dort die Interessen der Opfer zu vertreten. Diese Art von Sammelklagen ist in begrenztem Umfang bereits in anderen Bereichen vorgesehen, etwa in der Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs (Art. 10 und 23 UWG) und im Umweltschutz (Art. 55 USG und Art. 12 NHG). Entsprechende Regelungen gibt es auch in anderen Ländern wie Frankreich, wo Verbände diesbezüglich eine wichtige Rolle spielen.
Klare Verfahrensgarantien müssen die Rechte der Privatklägerschaft sichern und ihnen einen angemessenen Zugang zu solchen Verfahren der Verhandlungsjustiz gewährleisten.12 Wird eine Lösung im Verhandlungsweg in Betracht gezogen, muss besonderes Gewicht auf die vorgängige, systematische Identifizierung der Geschädigten gemäss der Regelung in Art. 118 Abs. 4 der Strafprozessordnung (StPO) gelegt werden.13 In der Folge muss die Privatklägerschaft umfassend und regelmässig über ihre Rechte und den Stand des Verfahrens informiert werden. Sie muss sich zudem zum Vorschlag einer aufgeschobenen Anklageerhebung äussern können. Weiter muss sie an den Verhandlungen teilnehmen können, insbesondere wenn es um die Höhe der Entschädigung geht, die ihr zusteht. Darüber hinaus muss sie genauso wie das beschuldigte Unternehmen gegen die Vereinbarung über die aufgeschobene Anklageerhebung Einsprache einlegen können.14 Schliesslich sollen allfällige Geschädigte, die nicht über das Verfahren informiert wurden, ihre Ansprüche auf zivilrechtlichem Weg anmelden können.
Entscheidet sich die Schweiz für die Einführung der aufgeschobenen Strafverfolgung, muss sie diesen Mechanismus an hohe Anforderungen knüpfen. Andernfalls könnte dieser vermeintliche Fortschritt die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität im Gegenteil zurückwerfen, indem sich betroffene Unternehmen mit wenig Aufwand von laufenden Verfahren freikaufen könnten.
- N. LORD, Accomodating transnational corporate bribery revisited, in : Capus/Hohl Zürcher (édit.), Negotiated Justice in Transnational Corruption – Between Transparency and Confidentiality, 2024, S. 290
- CR CPP-Gilliéron/Killias, Art. 352 N 1
- PC CPP-Moreillon/Parein-Reymond, art. 352 N 2
- CR CPP-Gilliéron/Killias, Art. 352 N 14a
- In Anlehnung an das abgekürzte Verfahren nach Art. 358 ff. StPO, das auch bei Wirtschaftskriminalität von Unternehmen angewendet wird, wenn auch in geringerem Umfang. Siehe etwa: CR CP I- Macaluso, art. 102 N 3a
- Jeanneret P., Kuhn. A, Précis de procédure pénale, 2. Aufl., Bern 2013, N 17049
- CR CPP-Mahon/Jeannerat, Art. 69, N 9
- Positionspapier von Transparency International Frankreich, 2023, S. 16.
- ARLEN J., The potential promise and perils of introducing deferred prosecution agreements outside the US, in: Søreide/Makinwa (Hg.), Negotiated Settlements in Bribery Cases, Cheltenham 2020, 156 ff zitiert nach Søreide T., Principled and Transparent Settlement-based enforcement of corporate liability, in: Capus/Hohl Zürcher (Hg.), Negotiated Justice in Transnational Corruption – Between Transparency and Confidentiality, Basel 2024.
- A.o.O.
- Urteil des BGer vom 17. Oktober 2017, 1B_261/2017, E. 3; Urteil des BGer vom 3. November 2010, 6B_908/2009, E. 2.3.2.
- Siehe die Analyse von Transparency International Frankreich zur französischen Regelung der CJIP.
- Das Serious Fraud Office, die britische Strafverfolgungsbehörde für schwere Betrugsdelikte, hat beispielsweise allgemeine Grundsätze für die Entschädigung ausländischer Opfer in Fällen von Wirtschaftskriminalität herausgegeben. Darin wird festgehalten, dass diese Frage in einem frühen Stadium der Ermittlungen oder der Strafverfolgung geprüft werden muss.
- Nach dem Modell des abgekürzten Verfahrens (Art. 360 Abs. 2 StPO).