Nachhaltigkeit statt Heimatschutz: Wie die Politik auf Temu, Shein & Co. reagieren muss

Omnipräsente orange Werbung, Billigkleidung für den Müll und überforderte Zollbehörden: Die chinesischen Plattformen Shein und Temu sind längst keine Nischenphänomene mehr. Milliardenumsätze und Dumpingpreise setzen Schweizer Händler unter Druck und rufen nun auch die Politik auf den Plan. Zum Glück, denn es braucht mehr Regulierung gegen den Konsuminfarkt. Diese sollte aber nicht darauf abzielen, die vermeintlichen Schmuddelkinder aus China fernzuhalten, sondern generell für mehr Nachhaltigkeit, Verbraucherschutz und fairen Wettbewerb sorgen.

David Hachfeld, 24. Oktober 2024

Innert nur fünf Jahren erlebt der europäische Detailhandel schon die zweite Zäsur. Zunächst verhalfen die Corona-Lockdowns dem Onlinehandel im Eiltempo zum Durchbruch. Viele Handelsunternehmen, die bis dato nur oder primär auf das klassische Ladengeschäft gesetzt hatten, investierten kräftig in Onlineshops, um das Feld nicht den Amazons, Zalandos oder Digitecs dieser Welt zu überlassen. 

Bevor dieser Strukturwandel auch nur halbwegs verdaut ist, rollt, angetrieben von den chinesischen Shop-Plattformen Shein und Temu, bereits ein zweiter, noch einschneidender Umbruch auf den Handel zu. Und diesmal geht es nicht nur um einen anderen Vertriebskanal, sondern um völlig neue Geschäftsmodelle und Preiskämpfe im Extrembereich. So extrem, dass selbst die sonst regulierungsskeptischen Händler und ihre Branchenverbände um Marktanteile und Existenzen fürchten und dringende Appelle an die Politik richten.  

Laissez-faire, kurze Verschnaufpause oder echte Gestaltung? 

Im Kern hat die Politik nun drei Optionen: Die schlechteste wäre die Fortsetzung des bisherigen Laissez-faire. Abgesehen von einigen ambitionslosen freiwilligen Initiativen wurde der Konsumgütermarkt in den letzten Jahrzehnten sich selbst überlassen. Selbst jetzt, wo die EU erste Gesetze zur Bekämpfung der gröbsten Branchenprobleme auf den Weg bringt, setzt der Bundesrat weiter auf Abwarten und Teetrinken. Würde dieser Kurs beibehalten, dürfte der Konsum von kurzlebiger Fast-Fashion weiter steigen und das Preisniveau und die Wertschöpfung noch schneller sinken. Diesem Trend dürften weitere etablierte Händler zum Opfer fallen. 

Durch die dringenden Appelle der Wirtschaftsverbände steigt nun jedoch die Wahrscheinlichkeit der zweiten Option: dass die Schweizer Politik doch noch aufwacht und eingreift, um zumindest einige der stossendsten Wettbewerbsvorteile der asiatischen Onlinehändler zu beseitigen. Im Fokus steht hier die Schliessung von Schlupflöchern bei Zoll und Mehrwertsteuer, welche für wenige Ausnahmefälle gedacht waren, nun jedoch im grossen Stil missbraucht werden.  

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Haupterfolgsfaktoren von Temu und Shein sind aber nicht diese Schlupflöcher, sondern ihre ultraeffiziente Vertriebs- und Produktionsweise sowie das Fehlen qualitativer, ökologischer und sozialer Mindeststandards.

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  • Was macht Shein und Temu so erfolgreich?

    Direktversandhandel aus China gibt es von Aliexpress oder Wish schon länger. Shein und Temu haben dieses Vertriebsmodell aber «perfektioniert». Mittels avantgardistischer Apps sowie milliardenschweren Marketingmaschinerien, die auch manipulative Tricks («dark patterns») einsetzen und durch ein datengetriebenes Angebotsmanagement, welches den Herstellern und damit letztlich den Arbeiter*innen hohe Flexibilität auf niedrigstem Preisniveau abverlangt. Temu trieb dies jüngst so weit, dass wütende Produzenten kürzlich Büros des Konzerns stürmten. Verzahnt werden diese Teile durch eine auf Geschwindigkeit getrimmte Logistik, die vor allem auf klimaschädlichen Direktversand per Luftfracht setzt. Da die Sendungen in der Regel als Einzellieferungen über die Grenze kommen, können die Unternehmen teilweise von Ausnahmen von Importzöllen (in die EU) oder dem Einzug der Einfuhrmehrwertsteuer (in der Schweiz) profitieren. Zudem sind die Zollbehörden ob der schieren Menge heillos überfordert, die korrekte Deklaration und die Einhaltung von gesetzlichen Standards wie z.B. Grenzwerte für Chemikalien effektiv zu überprüfen. All diese Faktoren zusammen ermöglichen es den Plattformen, Produkte zu einem Bruchteil des sonst üblichen Preisniveaus anzubieten, die selbst kritischere Konsument*innen zu Impulskäufen verführen.  

    Expertenschätzungen zufolge hat sich die Plattform Temu binnen nur eines Jahres seit Markeintritt bereits einen Platz unter den Top 10 der grössten Onlinehändler in der Schweiz erkämpft, mit einem Umsatz von 350 Millionen Franken - 2024 könnten es bereits 600 Millionen sein. Und in Europa dürfte Shein mittlerweile mehr Kleidung verkaufen als die bis anhin führenden Branchenleader Zalando, Zara oder H&M. 

Solange staatliche Stellen hier nichts ändern, steigt der Anpassungsdruck. So baut Amazon bereits an einer Discount-Plattform mit Direktversand aus China, die Otto-Tochter About You will künftig auch direkt ab Fabrik liefern und selbst Branchenführer Inditex hat trotz Rekordgewinn die neue Billigmarke «lefties» lanciert. Kurz: Die Textilindustrie dreht in einer Negativspirale, der Preiskampf wird noch härter.  

Um nicht blosse Schadensbegrenzung zu betreiben, muss die Politik über eine Lex Temu/Shein hinausgehen und die Mindestanforderungen für alle in der Branche anheben. 

Für diese dritte und beste Option gibt es viele Ansätze (siehe auch unten: «10 Hebel»). 

  • Naheliegend wäre zunächst die Stärkung des behördlichen Wettbewerbs- und Konsumentenschutz, damit er systematisch und auch eigeninitiativ gegen manipulatives Marketing und unfaire Preissetzung vorgehen kann.
  • Einige Plattformen erklären Kundinnen in ihren AGBs kurzerhand zu Importeuren und schieben ihnen damit die Verantwortung zu sicherzustellen, dass die gekauften Produkte die Gesetze und Vorschriften des jeweiligen Landes erfüllen. Das ist absurd, da einzelne Konsumentinnen dazu weder in der Lage sind noch Zugang zu den dafür nötigen Informationen haben. Hier muss die Politik dringend einen Riegel schieben und durchsetzen, dass alle Händler und Plattformen, die dort vertriebenen Waren auf Sicherheit, Qualität und Zulässigkeit prüfen und die Produktehaftpflicht wahrnehmen.
  • Transparenzpflichten für die Lieferketten, Produktionsbedingungen und Umweltimpacts würden ausbeuterische Zustände verringern und den Konsumierenden jene Informationen zu liefern, die sie für bewusste Kaufentscheide benötigen. Mindestgarantiefristen, Ecodesign-Anforderungen, sowie ein Zerstörungsverbot für neuwertige Produkte sind wiederum effektive Massnahmen, um Ramschware aus dem Markt zu drängen. Vielversprechend wäre auch eine Gebühr auf Neuware zur Förderung von Reparaturen und Wiederverwertung. 

So dramatisch die aktuellen Disruptionen auch sind, sie bieten zugleich die Chance, die politischen Weichen im Konsumgütermarkt in Richtung Nachhaltigkeit zu stellen. Dazu gehört, sich endlich ehrlich zu machen und nicht länger so zu tun, als beschränkten sich die Probleme in diesem Risikosektor auf die neuen Plattformen aus China. Auch etablierte heimische Markenfirmen und Händler haben zu den Missständen beigetragen. Um den ökologisch wie sozial verheerenden Trend zum Billigsten, Schnellsten und Rücksichtslosesten aufzuhalten, müssen Parlament und Bundesrat nicht nur für gleiche Spiesse, sondern auch für faire Spielregeln sorgen. Und das schnell. 

*Eine Kurzfassung dieses Kommentars erschien am 22. Oktober 2024 im Tagesanzeiger.  

Nachhaltigkeit und Fairness im Onlinehandel: 
10 Hebel der Schweizer Politik 

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  • Schlupfloch bei der Umsatzsteuer schliessen

    Für Postsendungen, die einen Wert von 65 CHF nicht überschreiten, besteht aktuell eine Freigrenze bei der Einfuhrumsatzsteuerpflicht. Sie wurde einst für Ausnahmefälle eingeführt, um den Erhebungsaufwand zu reduzieren. Inzwischen wird sie jedoch systematisch und millionenfach für kommerzielle Kleinwarensendungen missbraucht. Teils werden Sendungen dafür auch extra aufgeteilt. Die Freigrenze sollte deshalb entweder komplett wegfallen oder sich zumindest nicht auf einzelne Sendungen beziehen, sondern aggregiert auf alle Sendungen einer Plattform oder eines Händlers.  

  • Erhöhung der Kontrolldichte, bessere Ausstattung des Zolls

    Durch den Trend zu kleineren Sendungen entsteht beim Zoll ein Mehraufwand für deren korrekte Erfassung und Kontrolle. Nötig sind zum Beispiel deutlich mehr Stichproben, wofür der Zoll entsprechend ausgestattet werden muss. Dies umfasst mehr Personal und Lagerkapazitäten, aber auch Anpassungen im Registrierungsprozess. Von Plattformen vermittelte Sendungen sollten vom Zoll schnell erkennbar und entsprechend erfasst werden (nicht zuletzt auch, damit die Handelsstatistik wieder aussagekräftig ist). Sanktionen oder Gebühren bei falscher Deklaration oder Verletzung von Sicherheits- und anderen Standards müssen für kommerzielle Händler sowie für Plattformen, die viele nicht-konforme Sendungen vermitteln, schmerzhaft sein, insbesondere bei Vorsatz oder Wiederholung.

  • Produkt-Verantwortung nicht auf Konsumierende abwälzen

    Importeure (bzw.  «Inverkehrbringer») machen Produkte aus anderen Ländern zugänglich. Sie tragen damit auch die Verantwortung für deren Sicherheit, Qualität und Zulässigkeit, bei ihnen liegt die Produktehaftpflicht. Zudem sollten sie Ansprechpartner bei Fragen, Reklamationen, Reparaturen und Rücknahmen sein. Diverse Plattformen erklären über ihre AGBs jedoch konsumierende Privatpersonen zu Importeuren. Einige verlangen gar explizit von ihnen sicherzustellen, dass die Produkte die Gesetze und Vorschriften des jeweiligen Landes erfüllen. Das ist absurd, da Einzelpersonen dazu weder in der Lage sind noch Zugang zu den dafür nötigen Informationen haben. Hier muss die Politik dringend einen Riegel schieben und klarstellen, dass Händler oder Plattformen, die Produkte in der Schweiz bewerben und verkaufen, selbstverständlich in der Rolle des Importeurs und damit auch für die Einhaltung der Gesetze verantwortlich sind. 

  • Stärkung von Wettbewerbs- und Konsumentenschutz

    Das Büro für Konsumentenfragen und die Wettbewerbskommission sollten ermächtigt und mit den nötigen Ressourcen ausgestattet werden, um effektiver gegen problematische Geschäftspraktiken vorzugehen. Dazu zählen «dark patterns» in Onlineshops und Apps und andere Formen von manipulativem Marketing ebenso wie irreführendes Greenwashing und unfaire, intransparente oder gar diskriminierende Preissetzungen. Diese Behörden sollten auch eigeninitiativ tätig sein und nicht erst, wenn bereits viele Konsumierende oder Wettbewerber geschädigt wurden. Zur besseren Prävention müssen sie spürbare finanzielle Sanktionen verhängen können, insbesondere bei Wiederholung und Vorsatz. 

  • Erreichbarkeit von Händlern sicherstellen

    Händler und stellvertretend Plattformen, die Produkte in der Schweiz bewerben und/oder anbieten, sollten verpflichtet werden, eine Niederlassung zu gründen oder zumindest eine in Land ansässige Stelle mit Rechtsverantwortung zu benennen. Diese dient Konsumierenden und Behörden als Anlaufstelle für sämtliche Anliegen sowie als Adressat für Rücksendungen, Reklamationen, Reparatur oder Entsorgung. 

    Dass Produkte aggressiv an Konsumierende eines Landes vermarket und teils kostenfrei geliefert werden, diese sich bei Gewährleistungsfällen, für Retouren oder Rückfragen jedoch an Unternehmen im (meist fernen) Ausland wenden müssen, ist weder nachhaltig noch verantwortungsvoll. Diese gängige Praxis führt unter anderem dazu, dass Produkte, die noch brauch- oder reparierbar wären, entsorgt werden, weil dies effektiv oft günstiger erscheint. Eine inländische Anlaufstelle ist auch wichtig zur Durchsetzung der Produkthaftpflicht und für eine funktionierende Herstellerverantwortung.  

  • Transparenzpflicht zur Herkunft und Herstellung

    Mit einer gesetzlichen Pflicht zur Offenlegung der Lieferkette könnten ausbeuterische Zustände verringert und Konsumierende mit Informationen ausgestattet werden, die sie für bewusste Kaufentscheide benötigen. Wer Waren bewirbt oder verkauft, sollte offenlegen müssen, wo und unter welchen Bedingungen diese hauptsächlich gefertigt und verarbeitet werden. Diese Informationen müssen möglichst vollständig, leicht zugänglich und verständlich formuliert sein. Auch die Unsicherheit und berechtigte Skepsis vieler Online- und Plattform-Kund*innen, ob die deutlich teureren Produkte der etablierten Konkurrenz wirklich besser sind, oder ob sie möglicherweise unter ähnlich schlechten Bedingungen und vielleicht sogar in denselben Fabriken hergestellt werden, würde so reduziert.  

  • Soziale und ökologische Mindeststandards

    In der Schweiz in den Verkehr gebrachte Produkte sollten ein Minimum an sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Alle hierzulande aktiven Hersteller, Händler und Plattformen, auch ausländische, sollten nachweisen müssen, dass sie ein Mindestmass an menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltsprüfungen umsetzen, in der Produktion die internationalen Arbeitsrechtsnormen einhalten und existenzsichernde Löhne zahlen. Wo dies noch nicht der Fall ist, braucht es eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zur Erarbeitung und Umsetzung von Strategien, um die diese Standards in der Lieferkette innerhalb eines definierten Zeitraums herzustellen. 

  • Massnahmen gegen kurzlebige Ramschwaren

    Gesetzliche Mindestgarantiefristen, das Recht auf Reparatur und der Zugang zu Ersatzteilen sowie eine Mindestsupportdauer für elektronische Produkte würden minderwertige oder auf kurze Lebensdauer ausgelegte Produkte aus dem Markt drängen und mit der Nutzungsdauer auchdie Nachhaltigkeit erhöhen. Ein Zerstörungsverbot für neue, neuwertige oder leicht reparierbare Produkte wäre eine wirksame flankierende Massnahme. 

  • Erweiterte Herstellerverantwortung und Lenkungsabgaben

    Eine erweiterte gesetzliche Herstellerverantwortung (Extended Producer Responsibility, EPR) würde in- wie ausländische Unternehmen, die Produkte in der Schweiz in Verkehr bringen, dazu verpflichten, sich über den Verkauf hinaus auch für eine nachhaltigere Nutzung und Entsorgen zu kümmern und die Kosten dafür zu tragen -- zumindest teilweise. Dies kann für Reparaturangebote, Sammel- und Recyclingsysteme oder auch für Beiträge zur Lösung struktureller Nachhaltigkeitsproblemen gelten, die mit der Herstellung, dem Konsum oder der Entsorgung der Produkte zusammenhängen.  

  • Logistik nicht vergessen

    In der Logistik bestehen besonders hohe Risiken von Arbeitsrechtsverletzungen, weshalb es dort aktive und regelmässige Kontrollen und eine konsequente Ahndung bei Verstössen braucht, um die aktuelle Negativspirale in dieser für Händler und Plattformen zentralen Branche umzukehren. Zudem sollte die Auslagerung logistischer Aufgaben an Subunternehmen und Scheinselbständige erschwert und branchenweit verbindliche, höhere Mindeststandards bei Löhnen, Arbeitszeiten und anderen Arbeitsbedingungen etabliert werden.