Déjà-vu: Warum der Rohstoffhandel Aufsicht braucht

Seit 2014 fordert Public Eye die Einführung einer Rohstoffmarktaufsicht. Ein Blick in die Geschichte der Versicherungs- und Bankenaufsicht zeigt grundlegende Parallelen, die eine entsprechende Beaufsichtigung nahelegen.

Die Schweiz hat eine führende Rolle im weltweiten Rohstoffhandel. Allerdings spielt der Sektor in der öffentlichen Wahrnehmung nur selten eine Rolle – trotz der zahlreichen Risiken und Skandale.

Heute scheint eine staatliche Aufsicht für Versicherer und Banken eine Selbstverständlichkeit zu sein. Das war nicht immer so.

Auch bei den Finanzinstituten dauerte es lange, bis sie einer Aufsicht unterstellt wurden. Wie heute die Rohstoffhändler, durften auch sie lange unbeaufsichtigt agieren, und es brauchte innen- und aussenpolitischen Druck, um eine Regulierung zu etablieren. Blättern wir im Geschichtsbuch der Schweiz mal 150 Jahre zurück. 

29. Mai 1874: Die neue Verfassung steht

Art. 34 Alinea 2 der revidierten Bundesverfassung schreibt vor: 

«Der Geschäftsbetrieb von Auswanderungsagenturen und von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens unterliegt der Aufsicht und Gesetzgebung des Bundes.» 

Die «staatswirthschaftliche Sektion der nationalrätlichen Kommission» hatte ihren entsprechenden Antrag wie folgt begründet

„Die Sektion halte dafür, daß es bei dem allgemeinen Satze des Bundesrathes, demzufolge der Gewerbebetrieb frei sein soll, sich nicht bewenden dürfe, daß vielmehr die Möglichkeit dem Bunde eingeräumt werden müsse, ordnend einzuschreiten, wo die Kantone für sich allein dies nicht zu thun vermöchten.» (Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über den Geschäftsbetrieb von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens, BBl. 1885, S. 104) 

Nur eine landesweite Aufsicht könne die Experten bereithalten, welche die komplexe Materie verstehen und eine effektive Aufsicht durchsetzen können. 

«Von großem Interesse sei es aber, hier entsprechend vorzusorgen, was nur dem Bunde möglich sein werde und was daher eine einheitliche Aufsicht unerläßlich bedinge.» (BBl. 1885, S. 104). 

Zwar könne der Staat nicht für das Funktionieren und die Stabilität der Versicherungen haften. Jedoch: 

«Der Bund soll wenigstens „das Möglichste thun, um den Bürger vor Schaden zu sichern, und Letzterer wird in diesem Vorgehen immerhin eine etwelche Beruhigung erblicken. […]" » (BBl. 1885, S. 120.) 

Ausschnitt aus BBl. 1885, S. 119-120.

1933: Die Banken am Abgrund

Die Schweiz wird von Bankenkrisen geplagt. Einleger, Investoren und das Kreditwesen sind in Gefahr. Die Verantwortlichen bleiben ungestraft. 

Der Bundesrat erkennt die Marktmacht und Gefahren des Bankensektors

«Das hervorstechende Merkmal der modernen Wirtschaft liegt vielleicht weniger in der Konzentration des Reichtums als in der Häufung einer grossen wirtschaftlichen Macht in den Händen einer kleinen Zahl von Personen, die nicht Eigentümer, sondern lediglich Verwahrer der Kapitalien sind, die sie anzulegen und zu verwalten haben.» (Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen, BBl. 1934, S. 171ff.). 

Viele Banken unterstellen sich freiwillig der Kontrolle durch interne Experten, externe Treuhandgesellschaften oder externe Kontrollorgane. Der Bundesrat erkennt deren grossen Wert, selbst wenn diese nicht jede Krise verhindern können. 

«Nichts kann die persönlichen Eigenschaften ersetzen, die notwendig sind, um die schwere Verantwortung für die Verwaltung einer Bank zu übernehmen. Ebenso richtig ist, dass eine regelmässige Kontrolle durch Fachleute, die mit den Bankgeschäften vertraut und völlig unabhängig sind, wesentlich zur Sicherheit beiträgt.» (BBl. 1934, S. 172) 

1934: Die Banken werden reguliert

Mit dem Bankengesetz schreibt der Bund für alle Banken die Beaufsichtigung durch die neu zu schaffende Bankenkommission vor.

Er tut dies nicht zuletzt unter beachtlichem aussenpolitischem Druck auf die Schweizer Banken und den Staat 

«Der Zweck der Gesetzesvorlage geht dahin, die Pflicht und den Vorteil einer unabhängigen Kontrolle, der sich die weitaus meisten unserer Finanzinstitute bereits freiwillig unterzogen haben, auf sämtliche Banken auszudehnen.» (BBl. 1934, 172) 

Dabei beruft sich der Bundesrat ausdrücklich auf das allgemeine Wohl: 

«Bisher unterstanden die Banken, ausgenommen die Kantonalbanken, einzig den Bestimmungen des Obligationenrechtes, die für alle Industrie- und Handelsunternehmungen gelten, grosse und kleine, welches auch deren Tätigkeit sein mag. Nun macht aber das mit dem Bankwesen eng verknüpfte allgemeine Wohl den Erlass besonderer Bestimmungen notwendig.» (BBl. 1934, S. 176) 

Auschnitt aus BBl. 1934, S. 171-172

2009: Die FINMA übernimmt die Aufsicht

Ab 2009 beaufsichtigt die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) die Banken und Versicherer. In ihr wurden das Bundesamt für Privatversicherungen, die Eidgenössische Bankenkommission sowie die Kontrollstelle für die Bekämpfung der Geldwäscherei zusammengeführt.

2012/2013: Der Rohstoffhandel kommt in den Fokus

Der Rohstoffhandel nimmt über die Jahre markant zu und setzt an, dem Finanzsektor an Bedeutung den Rang abzulaufen. 2012 sehen das Aussen- und das Finanzdepartement sowie das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung aufgrund des zunehmenden öffentlichen Interesses an der Rohstoffbranche und der innen- und aussenpolitischen Bedeutung des Themas Handlungsbedarf. Zuhanden des Bundesrates tragen sie das vorhandene Wissen in der Bundesverwaltung zur Rohstoffthematik zusammen, um damit verbundene Herausforderungen darzustellen und Empfehlungen aufzuzeigen. 

Der am 27. März 2013 vom Aussendepartement (EDA) publizierte Grundlagenbericht Rohstoffe führt aus: 

«Mit der zunehmenden Bedeutung dieser Branche gehen weitere ernst zu nehmende Herausforderungen einher, u.a. in Bezug auf die Menschenrechte und Umweltsituation in rohstoffexportierenden Ländern, die Korruptionsbekämpfung sowie dem Phänomen des „Rohstoff-Fluchs“ in Entwicklungsländern. Mit diesen Herausforderungen können auch Reputationsrisiken für einzelne Unternehmen sowie für die Schweiz als Land verbunden sein, v.a. dann, wenn das Verhalten von in der Schweiz domizilierten Unternehmen von der Schweiz vertretenen und unterstützten Positionen im Bereich der Entwicklungspolitik, Friedensförderung, Menschenrechte sowie Sozial- und Umweltstandards entgegenlaufen sollte.» (Grundlagenbericht Rohstoffe, S. 2)

2014 fordert Public Eye die Einführung einer Rohstoffmarktaufsicht, um der auch vom EDA beschriebenen Risiken Herr zu werden. 

2023: Der Rohstoffhandel steht am Pranger

Der Rohstoffsektor steht in der Kritik wegen exzessiven Gewinnen durch Preisverwerfungen im Zuge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Gleichzeitig zeigen die Sanktionen gegen den Handel mit russischen Rohstoffen die geopolitische Bedeutung der Rohstoffdrehscheibe Schweiz auf. Die Umsetzung der Sanktionen steht im In- und Ausland in der Kritik, der aussenpolitische Druck auf die Schweiz nimmt zu.

Das EDA anerkennt die Risiken des Sektors: 

«Die Branche zieht gelegentlich Kritik in Bezug auf Themen wie Transparenz, Geldwäscherei und Menschenrechte auf sich, was damit zusammenhängt, dass manche Rohstoffe aus politisch instabilen Ländern stammen. Dies heisst allerdings nicht, dass der Rohstoffhandel keinerlei Reglementierung zu beachten hätte. Eine breite Palette strenger Vorschriften regelt die verschiedenen Geschäftstätigkeiten der Branche.» (Website des EDA «Die Schweiz weltweit – Rohstoffhandel») 

Die Skandale der letzten Jahre, insbesondere das Schuldanerkenntnis von Glencore wegen Bestechung und Marktmanipulation, zeigen allerdings, dass die «strengen Vorschriften» Menschenrechtsverletzungen, Bestechung und Geldwäscherei (die übrigens auch in politisch stabilen Ländern auftreten können) nicht verhindern. 

20.09.2023: Die grosse Kammer nimmt eine Motion der SP-Fraktion in einem von fünf Punkten an und verlangt vom Bundesrat eine Botschaft zu einem Rohstoffhandelsgesetz.

21.09.2023: Der Nationalrat nimmt das Postulat «Durchsetzung und Kontrolle der Sanktionen gegen Russland im Rohstoffsektor» an. Der Bundesrat wird beauftragt, in einem Bericht darzulegen, inwieweit die Sanktionen gegen Russland im Rohstoffsektor derzeit eingehalten werden und wo noch Mängel bestehen.

Der logische nächste Schritt aus der Sicht von Public Eye

Der Bundesrat kommt aufgrund der aussergewöhnlichen Marktmacht der Branche und der Reputationsrisiken für die Schweiz zum gleichen Schluss wie seine Vorgänger vor fast 150 Jahren im Finanzbereich und unterstellt den Rohstoffhandel einer staatlichen Aufsicht. Sie erteilt die erforderlichen Lizenzen und stellt sicher, dass sich die Rohstoffhändler in der Schweiz an die Gesetze, Verordnungen, Weisungen und Reglemente halten.

«Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.» (Antoine de Saint-Exupéry) 

Britta Delmas arbeitet seit September 2023 im Bereich Rohstoffe und Finanzen bei Public Eye. Zuvor war sie 25 Jahre als Juristin für und bei Schweizer Banken und der FINMA tätig. 

Kontakt: britta.delmas@publiceye.ch 

Blog #PublicEyeStandpunkte

Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.  

Blog per Mail abonnieren