Eine Klatsche für die Wirtschaftslobby

Die Ablehnung einer «Regulierungsbremse» im Nationalrat ist nicht nur eine Ohrfeige für deren neoliberale Verfechter*innen in Parlament und Verbänden. Die Beerdigung dieser Schnapsidee ist auch ein weiteres Indiz für den Anfang vom Ende des urschweizerischen Primats der Wirtschaft über die Politik. Nach Corona, dem CS-Debakel und mitten in der Klimakrise scheint diese Doktrin langsam auch gemässigten bürgerlichen Kreisen suspekt zu werden.

Am Anfang der finalen Bruchlandung am 13. September stand eine hochfliegende FDP-Motion. Auf deren Grundlage verlangte das Parlament 2019 vom Bundesrat eine Vorlage zur Einführung höherer Abstimmungshürden für Regulierungen mit potenziell hoher Kostenfolge für Unternehmen. «Gesetzesprojekte müssen künftig ein Preisschild haben», forderte Obergewerbeverbändler Hans-Ulrich Bigler damals im Nationalrat. Der Bundesrat fand das zwar eine unausgegorene und kontraproduktive Idee, hielt sich drei Jahre später in seinem Vorschlag aber trotzdem sehr eng an den radikalen Vorstoss. Demnach sollten alle legislativen Vorhaben, die Kosten für mindestens 10’000 Firmen verursachen oder die Gesamtregulierungskosten insgesamt um mindestens 100 Millionen Franken erhöht, künftig über die Hürde eines «qualifizierten Mehrs» springen müssen.

Qualifiziertes Mehr!? Tönt harmlos, wäre aber eine staatspolitische Bankrotterklärung gewesen. Ein Gesetzesentwurf hätte dann zur Annahme nämlich in beiden Kammern die Zustimmung von mehr als der Hälfte ihrer Mitglieder gebraucht. Abwesende und Enthaltungen wären so automatisch als Nein-Stimmen gewertet worden. Dass eine solche Aushebelung des demokratischen Grundprinzips zugunsten von Partikularinteressen von der einfachen Ratsmehrheit ernsthaft erwogen wurde, lässt mich im Nachhinein noch schaudern. Wäre die «Regulierungsbremse» nicht auf dem Mist der Wirtschaftsverbände gewachsen, hätte man wohl bei Annahme der Motion vor vier Jahren schon gemerkt, dass sie zum Bundesberner Himmel stinkt.

Grosse Krisen, kleiner Sinneswandel 

Im Bedarfsfall bestellt diese Lobby dort zwar auch gern mal ein Gesetz (jüngstes Beispiel: die «Tonnage Tax»). Viel wichtiger ist für Konzerne aber, ihnen ungenehme – sprich: Kosten verursachende – Vorschriften parlamentarisch verschleppen oder verhindern zu können. Denn nach alter Schweizer (Un)Sitte heiligt der wirtschaftliche Zweck ja die Lobbying-Mittel. So half es nichts, dass der Tagi vor zwei Jahren schon kritisierte, dass mit der Regulierungsbremse «paradoxerweise eine zusätzliche Regulierung weniger Regulierung bringen soll». Oder dass der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), Daniel Lampart, in seinem Blog spottete: «Es ist absurd, aber leider wahr: Das Parlament als oberster Regulator will ein Gesetz, damit es weniger reguliert».

Damit zumindest einige bürgerliche Kräfte allmählich zur Besinnung kommen, brauchte es zuerst die Corona-Epidemie, dann das CS-Debakel und obendrauf noch eine epochale Herausforderung wie die Klimakrise, die sich ohne wirksame Gesetze nicht bewältigen lässt. Grosse Katastrophen für einen kleinen Sinneswandel, aber immerhin: Die Versenkung der Regulierungsbremse ist ein weiterer Nagel in den Sarg des Schweizer Neoliberalismus. Und klar: Regulierungen sind nicht gratis und manchmal sogar ziemlich kostspielig, aber sie haben – wenn sie gut sind – einen viel grösseren Nutzen. Und zwar idealerweise für die Allgemeinheit und nicht für eh schon privilegierte Interessengruppen wie Unternehmen.

«Als Spin Doktor und Schreiberling weiss ich: Die Wahrheit ist ein Näherungswert, keine An­sichts­sache. Guter Journalismus weiss und zeigt das.»

Oliver Classen ist seit über zehn Jahren Mediensprecher von Public Eye. Zudem schrieb er am Rohstoff-Buch mit und koordinierte mehrere Jahre die Public Eye Awards (2000-2015) in Davos. Vorher arbeitete er für verschiedene Zeitungen, darunter die Handelszeitung und der Tagesanzeiger.

Kontakt: oliver.classen@publiceye.ch
Twitter: @Oliver_Classen

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