Eine Bärenjagd und die Frage: Wird Michael Lauber sie unversehrt überstehen?

Ungemütliche Zeiten für Michael Lauber. Nachdem die parlamentarische Gerichtskommission im Rahmen der FIFA-Affäre ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet hat, steht der Bundesanwalt auch in der russischen Presse unter Beschuss. Mitte Mai schaffte er es auf die Titelseite eines der angesehensten russischen Oppositionsmedien: Die Nowaya Gaseta wirft Fragen zu russischen Gerichtsfällen auf, die in der Schweiz begraben wurden.

Für einmal geht es nicht um nebulöse Verfahren im Zusammenhang mit dem Weltfussballverein FIFA und geheime Treffen zwischen Michael Lauber und dem FIFA-Präsidenten Gianni Infantino. In ihrer Untersuchung fragt sich die Nowaya Gaseta vielmehr, weshalb mehrere für den Kreml verfängliche Korruptions- und Bestechungsaffären – alle mit Verbindungen zur Schweiz – fallen gelassen wurden oder nur schleppend untersucht werden.

Titelseite der Nowaya Gaseta vom 18.5.2020: «Im Geleit des Bundesanwalts. Die Schweizer gingen auf Jagd nach Bären und «russischen Schweinen». Im Gegenzug versuchten sie, die Ermittlungen zum Magnitsky-Mord zu blockieren.»

Nie untersuchte russische Fälle

Im März 2016 weigerte sich die Bundesanwaltschaft, den undurchsichtigen Affären und mafiösen Verbindungen von Artjom Tschaika nachzugehen. Der im Kanton Waadt ansässige Geschäftsmann, Besitzer einer Villa in Coppet und Inhaber von Schweizer Bankkonten, ist kein anderer als der Sohn des damaligen russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika. Ende 2015 hatte der Antikorruptionsfonds des russischen Regierungskritikers Alexei Nawalny eine gut dokumentierte Untersuchung veröffentlicht, und Nawalny bat in einem Brief an die Bundesanwaltschaft die Schweizer Justiz um Hilfe. Doch die Voruntersuchung mündete nicht in einem Verfahren.

Untersuchung des Antikorruptionsfonds des russischen Regierungskritikers Alexei Nawalny.

Die Geldwäscherei-Untersuchung um Elena Skrynnik (russische Landwirtschaftsministerin von 2009 bis 2012) hatte ihrerseits ziemlich gut begonnen. Aus Skrynniks Umfeld wurden in der Schweiz insgesamt 70 Millionen Franken blockiert. Doch das Verfahren verlief im Sand und wurde im August 2017 eingestellt – laut der Bundesanwaltschaft «aufgrund des unvollständigen Rechtshilfevollzugs».

Schliesslich ist da noch der brisante Fall Magnitski, den Bundesanwalt Patrick Lamon seit März 2011 im Rahmen eines Geldwäscherei-Verfahrens untersucht. Der im November 2009 im Gefängnis verstorbene Jurist Serguei Magnitski hatte als Angestellter von Hermitage Capital Management einen gewaltigen Steuerbetrug angeprangert. 2007 hatte eine Gruppe von Polizisten und Steuerbeamten bei einer Durchsuchung der Räumlichkeiten des Moskauer Investitionsfonds – der damals dem angloamerikanischen Geschäftsmann Bill Browder gehörte – Dokumente entwendet, mit welchen sie ungerechtfertigte Steuerrückzahlungen in der Höhe von rund 230 Millionen Dollar erwirkte. Das Geld soll im Ausland gewaschen worden und unter anderem in der Schweiz gelandet sein.

Zusammenfassung des Falls.

Beamter der Bundeskriminalpolizei zuständig für informelle Gespräche mit den Russen

Die Nowaya Gaseta ist überzeugt, dass zwielichtige Absprachen zwischen Mitgliedern der Schweizer Justiz und russischen Beamten das Vorankommen der Verfahren behinderten. Im Zentrum der Untersuchungen steht eine Person, die wir nur bei den Initialen nennen: V.S. Von 2013 bis 2017 nahm der Bundespolizist die Rolle des grossen Russlandkenners ein. Er unterstützte mehrere Staatsanwälte, darunter Patrick Lamon und Michael Lauber, und begleitete sie auf ihren Dienstreisen (siehe Bild unten). Er war der Mann, der für die informellen Gespräche mit den Russen zuständig war. Und er reiste auch auf eigene Faust durch Russland… bevor er ins Stolpern geriet.

© Novaya Gazeta
Andenken an eine Reise auf dem Baikalsee 2014, während eines offiziellen Besuchs in Irskutsk, dem Geburtsort des damaligen Staatsanwalts Juri Tschaika. Im Vordergrund kniend Michael Lauber, hinter ihm V.S. (in weiss), links daneben Patrick Lamon, rechts der stellvertretende russische Staatsanwalt Saak Karapetyan.

Vor einem Jahr verurteilte das Bundesstrafgericht V.S., weil er im August 2016 in Kamtschatka (einer Halbinsel im russischen Fernen Osten) an einer Bärenjagd teilgenommen hatte – auf Einladung eines Mitglieds der russischen Staatsanwaltschaft, alle Kosten wurden übernommen. Er wurde schuldig gesprochen, einen nicht gebührenden Vorteil angenommen zu haben (Art. 322sexies StGB). Dagegen legte er Berufung ein und erwirkte jüngst, dass mit der Verurteilung keine Strafe verhängt wird und ihm Gerichtskosten in der Höhe von CHF 21‘664 zurückerstattet werden.

Ein äusserst mildes Urteil! Andere Anklagepunkte – Amtsanmassung, Amtsmissbrauch und Bestechung – wurden fallen gelassen, da die Tatbestände nicht bewiesen werden konnten.

Ein wichtiger Teil der Geschichte blieb aber im Dunkeln: Zwischen 2014 und 2016 hatte der Polizist weitere Reisen angenommen, die ihm die russischen Behörden bar auf die Hand bezahlten. Dies ermöglichte es ihm, sich über hochsensible Dossiers zu unterhalten – mit einem bemerkenswerten Gespür fürs Timing.

Bärenjagd in Kamtschatka zur Vorbereitung einer Anhörung in der Schweiz

Der Kontakt von V.S. war damals Saak Karapetyan. Der für Rechtshilfe zuständige russische Staatsanwalt (inzwischen bei einem Flugzeugunfall verstorben) lud V.S. zu mehreren Wildschweinjagdpartien in der Region Jaroslawl (250 km nordöstlich von Moskau) ein, auf dem Land eines armenischen Oligarchen aus seinem Freundeskreis.

Über welche Fälle mögen die beiden Männer wohl zwischen zwei Schüssen gesprochen haben?

Während seines Prozesses machte V.S. ein erstaunliches Geständnis: Ziel seines Ausflugs nach Kamtschatka im August 2016 mit Karapetyan sei «die Vorbereitung der Anhörung von Andreas Gross» gewesen. V.S. war von der Bundesanwaltschaft beauftragt worden, den ehemaligen Schweizer Parlamentarier und Berichterstatter des Europarats im Rahmen des von Lamon untersuchten Verfahrens zur Magnitski-Affäre zu befragen. Gross ist Autor eines Berichts mit dem Titel «Refusing impunity for the killers of Sergei Magnitsky».

Die Anhörung wurde im November 2016 auf ziemlich aggressive Weise durchgeführt. V.S. scheint sich die These der russischen Justizbehörden voll und ganz zu eigen gemacht zu haben, die Magnitski und seinen ehemaligen Vorgesetzten Bill Browder immer noch als von der CIA manipulierte Betrüger darstellen. Während seines Prozesses erklärte er, dass der Fall Magnitski schon längst hätte zu den Akten gelegt werden müssen. Deshalb sei es nötig gewesen, zuerst Gross’ Bericht «unglaubwürdig» zu machen und dafür zu sorgen, dass die «Masken fallen».

In einem kürzlich in der SonntagsZeitung erschienenen Interview sagte Alexei Nawalny:

«Wer die Erklärung akzeptiert, dass persönliche Kontakte für Ermittlungen notwendig seien, versteht die Sitten in Russland nicht. Wenn Sie in Russland mit Vertretern der Justiz oder der Regierung jagen gehen, ist völlig klar, dass es dabei um zwielichtige Geschäfte geht.»

Treffen mit der skandalumwitterten Natalia Weselnizkaja

Andere verdächtige Vorkommnisse interessierten die Schweizer Staatsanwaltschaft indes nicht. So eilte V.S. Ende 2016 auf Karapetyans Ersuchen nach Moskau, und zwar mit einem Diplomatenpass. Seiner Aussage zufolge glaubte er, er würde entscheidende Elemente für das Verfahren gegen Elena Skrynnik erhalten. Stattdessen erklärte ihm der russische Staatsanwalt, aufgrund eines «Befehls von oben» bekäme er diese gar nicht zu Gesicht. Wenige Monate später wurde die Untersuchung gegen die Landwirtschaftsministerin ad acta gelegt.

Während seines Aufenthalts stellte man ihm dafür Natalia Weselnizkaja vor. Die Anwältin eines Protagonisten aus der Magnitski-Untersuchung sorgte in den USA für Aufsehen, weil sie verdächtigt wird, sich zugunsten von Donald Trump in den Wahlkampf 2016 eingemischt zu haben.

Wusste die Bundesanwaltschaft von allen diesen kleinen, informellen Arrangements und Reisen? Michael Lauber behauptete im Verfahren, nichts davon gewusst zu haben. Patrick Lamon hingegen sagte, er sei im Nachhinein vom Betroffenen informiert worden, der gestanden habe, «eine grosse Dummheit» gemacht zu haben. Der Anwalt von V.S. erklärte hingegen, die Bärenjagd in Kamtschatka hätte mit Wissen und Einverständnis der Bundesanwaltschaft stattgefunden.

Die ewige Geschichte des «abtrünnigen Angestellten», der von seinen Vorgesetzten fallen gelassen wird, sobald seine Missetaten öffentlich werden? Sieht ganz danach aus. In der Nowaya Gaseta liest man, die parlamentarische Gerichtskommission, welche die mögliche Amtsenthebung Laubers untersucht, soll beschlossen haben, sich mit diesen zwielichtigen Vorkommnissen zu beschäftigen. Dies wurde bisher in der Schweiz nicht bestätigt - wäre aber sehr zu begrüssen!

„Die Welt ist mehr bedroht durch die, welche das Übel dulden oder ihm Vorschub leisten, als durch die Übeltäter selbst." Albert Einstein

Agathe Duparc arbeitet seit Mai 2018 bei Public Eye und ist verantwortlich für Recherchen zu Rohstoffhandel. Als Expertin für Russland und Wirtschaftskriminalität arbeitete sie als Journalistin für verschiedene französische Medien, darunter Le Monde und Mediapart.

Kontakt: agathe.duparc@publiceye.ch
Twitter: @AgatheDuparc

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