Warum kippte die Handelszeitung Spitzenreiter Trafigura aus ihren Top500?

Die grösste Schweizer Wirtschaftszeitung hat das umsatzstärkste Schweizer Unternehmen aus dem wohl wichtigsten Ranking der Schweizer Wirtschaft eliminiert. Noch verstörender als die Begründung dieses präzedenzlosen Vorgangs ist nur, dass ihn bislang niemand moniert hat, nicht mal der betroffene Rohstoffkonzern. Die im Ranking nachträglich aufgerückte Konkurrenz von Trafigura schweigt ebenso wie die publizistischen Mitbewerber der Handelszeitung. Das wirft eine Reihe von Fragen auf.

Für Trafigura war 2020 ein Rekordjahr. Ihre «stunning performance» zeigt, dass die Handelsfirma bislang deutlich besser durch die Coronakrise gekommen ist als etwa Glencore oder Vitol. In einem Kommentar dazu nannte die NZZ Trafigura Mitte Juni ein «Genfer Unternehmen», das «in Singapur beheimatet ist, aber von der Calvinstadt aus gelenkt wird». Diese etwas kurvige, aber doch klare Verortung von Trafiguras operativem Zentrum in der Schweiz war bislang medialer Konsens, auch international. Schachtelkonstruktionen zur Minimierung von Steuern und juristischen Risiken sind in dieser Branche zwar besonders üblich und bei Trafigura besonders komplex (u.a. mit einer Holding in Holland, einem Teil der Verwaltung in Singapur und der ultimativen Offshore-Muttergesellschaft in Curaçao). Dessen ungeachtet titelte der Tagesanzeiger kürzlich erst «Schweizer Ölhändler in Korruptionsaffäre verwickelt» – und meinte damit Trafigura. Auch auf Wikipedia wird der von einem ehemaligen Marc-Rich-Mitarbeiter 1993 gegründete Rohstoffriese jenem Land zugeordnet, wo seine Geschäftsaktivitäten auch heute noch zusammenlaufen.

© Carl de Keyzer / Magnum

Kompromisslose «Global Player» wie die grossen Commodity Trader sind also vaterlandslose Gesellen. Das hält Journalist*innen jedoch nicht davon ab, ihnen nationale Identitäten zuzuschreiben. Diese nutzt dann zum Beispiel die Handelszeitung zur Erstellung ihrer berühmt-berüchtigten Ranglisten. Ende Juni verkündete das Blatt, dass es «Trafigura mit knapp 138 Milliarden Franken auf Platz eins der helvetischen Umsatzriesen [geschafft hat]. Vor Glencore, vor Vitol, vor Cargill und vor Mercuria.» Im kurz darauf publizierten PDF der «TOP 500 – Die grössten Unternehmen der Schweiz 2021», das für schlappe 45 Stutz downloadbar ist, dann auf Seite 25 der Hammer: «Offenbar wurde, ohne sichtbare Kommunikation, im letzten Jahr der Hauptsitz von Genf nach Amsterdam verlegt (…), was uns bewog, Trafigura aus der Liste zu nehmen.»

Zack bumm! In nur einem Satz stirbt der Spitzenreiter einen völlig absurden, ja skandalösen Listentod.

Denn dieser Satz enthält gleich drei kapitale Fehler:

  1. Bei Konzernen wie Trafigura gehört es seit jeher zum Geschäftsmodell KEINEN traditionellen Hauptsitz mehr zu haben.
  2. Die in den Niederlanden registrierte Trafigura Beheer B.V. fungiert schon seit Jahrzehnten als finanzielle Muttergesellschaft und laut Moneyhouse betraf der einzige nennenswerte Transfer letztes Jahr die Luzerner Zweigniederlassung der Singapurer Holding Trafigura Pte Ltd, welche nach Genf wanderte.
  3. Das Wörtchen «offenbar» zeigt die Arg- und Ahnungslosigkeit einer Redaktion, die sich für diesen massiven Eingriff auf ominöse Hinweise beruft, ohne deren Urheber auszuweisen und Angaben zu verifizieren. Journalistische Transparenz und Kompetenz sehen anders aus.

Glencore & Co könnten jederzeit das Schicksal von Trafigura teilen

«Selbst Zug wurde von einer Quelle [als eigentlicher Hauptsitz] genannt», heisst es am Ende des oben zitierten Abschnitts. Wer Trafiguras Geschichte auch nur von Ferne kennt, verfällt spätestens hier in Lach- oder Weinkrämpfe. Und stellt sich dann die Frage, was die zu Ringier Axel Springer Schweiz gehörende Handelszeitung zu dieser Harakiri-Aktion veranlasst hat. Und was der langjährige Projektpartner Dun & Bradstreet davon wusste. Schliesslich steht ja nicht nur die Glaubwürdigkeit der (laut Eigenwerbung) «führenden Wirtschaftszeitung der Schweiz», sondern auch jene ihres Datenlieferanten auf dem Spiel. In dessen Marketing-Blog zu den Top500 findet der willkürliche Wechsel von Trafigura zu Glencore an der Spitze der Liste jedenfalls keinerlei Erwähnung.

Fast noch irritierender als die Begründung dieses Willkürakts ist die Tatsache, dass ihn entweder noch niemand bemerkt oder sich bislang niemand daran gestört hat. Beides wirft kein gutes Licht auf die Relevanz des breit beworbenen und gern zitierten Kernprodukts der Handelszeitung.

Selbst die betroffene Firma hat keinen Einspruch gegen ihre journalistische Ausbürgerung erhoben.

Von der aufs Siegerpodest nachrückenden Konkurrenz war hingegen kein Protest zu erwarten. Dabei könnten Glencore, Vitol & Co jederzeit das Schicksal von Trafigura teilen. Denn mit ihrem abenteuerlichen De-Listing hat die Handelszeitung eine Pandora-Büchse geöffnet: Welche Kriterien muss eine «Schweizer Firma» erfüllen, um dieses Prädikat zu er- respektive behalten? Was immer ein solcher Katalog beinhaltet: Den Rohstoffsektor, der auch ohne Trafigura immer noch sechs TopTen-Plätze in den Top500 belegt, müsste man bei konsequenter Anwendung wohl integral aus der Liste streichen.

«Als Sprachrohr, Spin Doktor und Schreiberling weiss ich: Die Wahrheit ist ein Näherungswert, keine An­sichts­sache. Guter Journalismus weiss und zeigt das.»

Oliver Classen ist seit über zehn Jahren Mediensprecher von Public Eye. Zudem schrieb er am Rohstoff-Buch mit und koordinierte mehrere Jahre die Public Eye Awards (2000-2015) in Davos. Vorher arbeitete er für verschiedene Zeitungen, darunter die Handelszeitung und der Tagesanzeiger.

Kontakt: oliver.classen@publiceye.ch
Twitter: @Oliver_Classen

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