Interview mit dem Staatsanwalt Yves Bertossa «Der Gesetzgeber gibt uns nicht genügend Instrumente, um effizient gegen Korruption vorzugehen»

Der 47-jährige Yves Bertossa, der erste Genfer Staatsanwalt, hat die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität zu seinem Markenzeichen gemacht. Als Leiter der Abteilung für komplexe Fälle jongliert er mit den aufsehenerregendsten Dossiers. In diesem Interview spricht er ganz offen über die Defizite der Schweiz in der Korruptions- und Geldwäschereibekämpfung und die Schwierigkeiten, mit denen er konfrontiert ist.

Weitere Informationen

  • Kurzbiographie Yves Bertossa

    Der erste Genfer Staatsanwalt tritt 2007 im Alter von 33 Jahren in die Genfer Justiz ein. Seine ersten Schritte in der Welt der Justiz macht er als Anwalt. Um die Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen, tauscht er seine Anwaltsrobe gegen die des Richters ein. Schon bald kümmert er sich um komplexe Fälle im Zusammenhang mit Geldwäsche und Korruption und bewegt sich damit in den Fussstapfen seines Vaters, dem renommierten früheren Korruptionsbekämpfer Bertrand Bertossa. In den 14 Jahren seiner bisherigen Tätigkeit mussten viele vor ihm zittern.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) macht regelmässig auf die grossen Defizite der Schweiz in Bezug auf die Korruptions- und Geldwäschereibekämpfung aufmerksam. Was halten Sie von diesen Bewertungen?

Die OECD hat eine sehr statistische Sicht der Dinge. Bei der Bekämpfung von Korruption und Geldwäscherei kommt es vor allem darauf an, dass die Strafverfolgungsbehörden proaktiv handeln und neugierig sind. Diese Aspekte werden von der OECD jedoch nicht evaluiert. Sie richtet ihren Blick in erster Linie auf die Anzahl der Verurteilungen und verhängten Strafen. Die OECD wünscht sich möglichst exemplarische Sanktionen. Doch es ist nicht die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, Statistiken zu erheben oder an einigen Individuen ein Exempel zu statuieren, um sich öffentlich mit der Wirksamkeit ihres Systems zu brüsten.

In mehreren Punkten kritisiert die OECD die Schweiz aber zu Recht.

In welchen Punkten?

Seit Jahren weisen wir darauf hin, dass die in Artikel 102 des Strafgesetzbuches vorgesehene Geldstrafe für Unternehmen, die im Zusammenhang mit Bestechung oder Geldwäscherei verurteilt werden, lächerlich ist. Eine Busse von maximal 5 Millionen Franken schreckt einen Grosskonzern oder ein multinationales Unternehmen nicht ab. Ein Banker, der seine Meldepflicht verletzt (Art. 37 Geldwäschereigesetz), wird mit maximal 500'000 Franken bestraft. Das ist doch lächerlich. Wenn Sie beispielsweise eine Milliarde Franken «unklarer» Herkunft erhalten und neun Jahre lang verwalten, verdienen Sie viel mehr an Provisionen und Bankgebühren als die 500'000 Franken, die Sie möglicherweise zahlen müssen, wenn man Ihnen vorwirft, Sie hätten das Vermögen wegen Verdacht auf Geldwäscherei oder Korruption nicht rechtzeitig gemeldet.

Das Parlament hat es im März 2021 abgelehnt, «Beraterinnen und Berater» dem Geldwäschereigesetz (GwG) zu unterstellen, also Anwält*innen und Treuhänder*innen, die Briefkastenfirmen oder Trusts gründen, leiten oder verwalten. Was halten Sie davon?

Es handelte sich um eine internationale Empfehlung zur Bekämpfung der internationalen Korruption. Es ist schon ziemlich unverständlich, dass ihr keine Folge geleistet wurde. Und dies nur, damit einige weiterhin ohne jegliche Sorgfaltspflicht Offshore-Konstrukte errichten können und so das Image der Schweiz in Sachen Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität gefährden. Da wird deutlich, dass der Gesetzgeber uns nicht genügend Instrumente an die Hand gibt, um in genau diesen Bereichen effizient vorzugehen.

Ist der Grund dafür die starke Lobby der Anwält*innen im Parlament?

Ich sitze nicht im Parlament, aber tatsächlich haben sich einige Anwaltsverbände gegen diese Gesetzesänderung ausgesprochen, obwohl die überwiegende Mehrheit der Anwälte in der Schweiz keine Domizilgesellschaften gründet oder führt. Das anwaltliche Berufsgeheimnis gab es schon immer, und es wurde durch diese Vorlage nicht gefährdet. Es ist jedoch nicht dazu da, die Geheimnisse von Offshore-Firmen zu schützen, über die Korruptionsgelder fliessen. Und was die Treuhänder angeht, die solche «beratenden» Tätigkeiten anbieten: Zu viele von ihnen handeln völlig willkürlich, ohne jede Kontrolle.

Welches ist die grösste Schwierigkeit, mit der Sie heute bei der Bearbeitung Ihrer Fälle konfrontiert sind?

Bei Verfahren im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität ist das Siegelungsverfahren eine Katastrophe. Es ist für die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität völlig ungeeignet.

Worum geht es dabei genau?

In allen Verfahren, ob es um Geldwäscherei, ungetreue Geschäftsbesorgung oder Bestechung geht, finden sich die meisten Beweiselemente auf Kontoauszügen, aber auch auf Computern, Smartphones und Tablets. Bei Durchsuchungen sagt der Staatsanwalt beispielsweise: «Ich möchte die Mailboxen der Unternehmensleitung einsehen.» Wenn sich diese jedoch unter Berufung auf ein Geschäftsgeheimnis oder irgendein anderes ­Geheimnis weigert, wird alles versiegelt. Dann haben wir kein Recht, diese Daten einzusehen, und um Zugang zu den gewünschten Informationen zu erhalten, müssen wir uns an den Richter des Zwangsmassnahmengerichts wenden, damit er die Versiegelung aufhebt. Der Richter muss sämtliche Daten und E-Mails sortieren und die Nachrichten filtern, um festzustellen, was für den Prozess nützlich ist. Sie können sich vorstellen, was eine Festplatte alles enthalten kann…

Das ist grotesk.

Wir mussten teilweise drei Jahre lang warten, um Zugang zu den Unterlagen zu erhalten, dadurch werden die Verfahren blockiert. Wenn wir auf Antrag ausländischer Kollegen handeln, die uns um Rechtshilfe ersuchen, werden die beschlagnahmten Unterlagen ebenfalls versiegelt und unsere Kollegen müssen ebenfalls warten. Letzten Endes wird die Versiegelung in den meisten Fällen aufgehoben, aber es besteht immer noch die Möglichkeit, beim Bundesgericht – und nach einer anstehenden Gesetzesänderung bald auch auf kantonaler Ebene – Beschwerde einzulegen.

Meines Wissens gibt es ein solches System nirgendwo sonst in Europa. Hier hat der Gesetzgeber eindeutig Instrumente hinzugefügt, die allzu oft ihren ursprünglichen Zweck verfehlen und den Fortschritt komplexer Fälle zusätzlich verzögern.

Viele Ihrer ausländischen Amtskolleg*innen beklagen sich auch über die Langsamkeit der Rechtshilfe in der Schweiz…

Was die Zusammenarbeit betrifft, sind wir eines der langsamsten Länder Europas. Das Rechtshilfeverfahren sieht ein Rechtsmittel vor, bei dem sich die betroffene Person der Übermittlung ihrer Daten ins Ausland widersetzen kann. Bis zum Entscheid des Bundesstrafgerichts wird das Verfahren dadurch um drei bis sechs Monate verlängert. In mehr als neun von zehn Fällen werden solche Beschwerden abgelehnt, was zeigt, dass sie lediglich der Verzögerung dienen. Bitten wir hingegen einen Kollegen in Europa um Informationen, kann er sie uns innerhalb weniger Tage liefern. Das genannte Rechtsmittel mag für Länder, die keine Rechtsstaaten sind, begründet sein, aber bei EU-Mitgliedsstaaten ist es absolut sinnlos.

Sie haben zu Beginn erwähnt, wie wichtig es ist, dass Strafverfolgungsbehörden bei der Korruptionsbekämpfung proaktiv vorgehen. Erfüllen sie diese Anforderung genügend?

In der Schweiz haben wir Mühe, Korruptions- und Geldwäschereifälle festzustellen. Es ist nicht normal, dass viele Korruptionsaffären durch Medienberichte oder ausländische Rechtshilfeersuchen aufgedeckt werden statt durch Meldungen von Finanzintermediären. Diese warten teilweise bis zum letzten Moment, bevor sie etwas melden.

In der Schweiz müssen Banken und Finanzintermediäre verdächtige Transaktionen selbst bei der Meldestelle für Geldwäscherei melden, die das Dossier dann an die Staatsanwaltschaft weiterleiten kann. Ist dieses System der Selbstregulierung wirksam?

Nein, es funktioniert schlecht. Man erwartet von Leuten, die ihr Geld mit ihrer Kundschaft verdienen, dass sie die eigenen Kunden anzeigen.

Wenn die Selbstregulierung beibehalten werden soll, müssen Finanzintermediäre viel rigoroser vorgehen.

Sie richten ihre Aufmerksamkeit nicht genügend auf gross angelegte Geschäfte mit Sitzgesellschaften, über die Millionen und Abermillionen fliessen. Oft sehen sie darüber hinweg oder schauen nicht genügend genau hin, weil es sich um hohe Beträge handelt und ihnen die Bankgeschäfte viel einbringen.

Sollte die Selbstregulierung Ihrer Meinung nach abgeschafft werden?

Das ist heikel, denn dieses System hat auch seine Vorteile: So gehen beispielsweise die Regulierungskosten zulasten des Privatsektors und nicht des Steuerzahlers. Würden automatisch Meldungen an die Strafverfolgungsbehörde gemacht, liefen wir Gefahr, von der Datenflut überrollt zu werden und wichtige Informationen zu übersehen.

Im Januar 2021 wurde der Rohstoffmagnat Beny Steinmetz in Genf wegen Bestechung eines ausländischen Beamten in Guinea erstinstanzlich zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Welche Lehren kann man aus diesem aussergewöhnlichen Verfahren ziehen?

Ich werde mich zu diesem Fall nicht äussern, da das Verfahren derzeit bei der Genfer Berufungs- und Revisionskammer hängig ist. Abgesehen davon und ganz generell kommt es in der Schweiz und anderswo aber tatsächlich selten zu Verurteilungen wegen internationaler Korruption. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es schwierig ist, korrupte Handlungen nachzuweisen. Sowohl die bestechende als auch die bestochene Person sind sehr darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen. Und ohne Vertrag oder Geständnis ist eine korrupte Absprache äusserst schwer nachzuweisen. Hat die Bestechung ausserdem in einem Land stattgefunden, das nicht kooperationsbereit ist, ist es fast unmöglich, am «Ort des Geschehens» Beweise zu erhalten. Bei korrupten Zahlungen kann die Rückverfolgung der Geldflüsse Jahre dauern. Das Geld wird mit ein paar «Klicks» von einem Land ins nächste befördert, während für die Rechtshilfe manchmal mehrere Jahre benötigt werden. Glücklicherweise hinterlassen die Protagonisten in einigen Fällen Spuren oder machen Fehler, dank denen ihre Taten aufgedeckt werden können.

© Mark Henley / Panos Pictures

Der Fall von Teodorin Obiang, dem Sohn des Präsidenten von Äquatorialguinea, hat Ihnen hingegen Kritik eingebracht. Das Korruptionsverfahren wurde eingestellt, seine Rennwagen unter undurchsichtigen Umständen versteigert und seine Yacht schliesslich freigegeben. Was sagen Sie dazu?

Ich antworte mit einer Frage: Was hätten wir tun sollen? Korruption und Geldwäscherei bedrohen das gesellschaftliche Gleichgewicht, und es ist normal, dass alle sich dafür interessieren und Ergebnisse erwarten. Doch angesichts all der Hindernisse, über die wir vorhin gesprochen haben, fehlt es an Kohärenz zwischen dem Anspruch der demokratischen Länder und den Mitteln, die der Justiz zur Bekämpfung dieser Phänomene zur Verfügung gestellt werden. Die Justiz muss mit den Mitteln zurechtkommen, über die sie verfügt.

Im Fall Obiang bedauerten einige, darunter auch die OECD, dass Artikel 53 des Strafgesetzbuches herangezogen wurde, wonach ein Verfahren eingestellt werden kann, wenn der Angeklagte den Schaden wiedergutgemacht oder alle Anstrengungen unternommen hat, um den entstandenen Schaden zu kompensieren.

Wenn in Frankreich oder in angelsächsischen Ländern im Rahmen der sogenannten «conventions judiciaires d’intérêt public» Einigungen erzielt werden, redet niemand von einem Skandal. Doch in der Schweiz gibt es keine solchen Instrumente. Im oben erwähnten Fall ist der Angeklagte nicht zu den Anhörungen erschienen und das betroffene Land hätte nicht kooperiert. Deshalb war die Beweiserhebung extrem schwierig. Das beschlagnahmte Boot befand sich weit weg vom Genfer See, in den Niederlanden, und die Beschlagnahmungskosten wurden von der Genfer Staatsanwaltschaft übernommen. Die Niederlande haben zwar Amtshilfe geleistet, doch nichts hinderte sie daran, ihr eigenes Verfahren einzuleiten.

Angesichts dieser Schwierigkeiten bestand das Hauptziel darin, dass sich die Verbrechen nicht auszahlen sollten. Die Autos wurden beschlagnahmt und verkauft. Die gesamten Verfahrenskosten wurden übernommen und zudem ein Betrag von rund 20 Millionen Franken an die Bundesbehörden überwiesen, damit diese die Rückzahlung der entsprechenden Summe an Äquatorialguinea im Rahmen von Sozialprogrammen vor Ort aushandeln. Man kann immer alles noch besser oder anders machen – oder man tut gar nichts. Ich für meinen Teil ziehe es vor, zu handeln und mich der Kritik zu stellen, statt tatenlos zuzusehen.

Korruption ist immer schwer nachzuweisen. Eine korrupte Absprache kann nur selten aufgedeckt werden. Ist die Umkehr der Beweislast eine denkbare Lösung für grosse internationale Korruptions- und Geldwäschereifälle?

Ich bin nicht für eine Umkehr der Beweislast. Es ist nicht Aufgabe der Leute, ihre Unschuld zu beweisen. Zwischen den «einfachen» Verfahren, bei denen alle Beweise vorliegen – was eine Anklageerhebung ermöglicht – und den Verfahren, bei denen wir nichts haben, gibt es viele Zwischenstufen.

Wenn nachgewiesen werden kann, dass mehrere sehr dubiose Finanztransaktionen ohne ordnungsgemässe Abklärungen getätigt wurden, sollte es möglich sein, einen Mechanismus einzurichten, der es erlaubt, Finanzintermediäre in einem grösseren Umfang zu sanktionieren, als es die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht Finma tun kann. Man müsste Finanzinstitute sanktionieren können, die ihre Geschäfte nicht ordnungsgemäss dokumentiert oder ihre Sorgfaltspflicht nicht ausreichend erfüllt haben – und zwar auch dann, wenn die vorausgehende Straftat nicht nachgewiesen werden kann.

Wie stehen Sie zum Rohstoffhandel und der mangelnden Regulierung in diesem Sektor?

Was die Korruption betrifft, ist dies ein Hochrisikosektor. Vor allem, wenn die Händler in Ländern arbeiten, die von Kleptokraten oder Familien geführt werden, die seit Jahrzehnten an der Macht sind. Den Sorgfaltspflichten sollte eine grosse Bedeutung beigemessen werden.

Die Schweiz geht gar nicht in diese Richtung.

Bei der Bekämpfung von Geldwäscherei und Korruption hat die Schweiz stets erst unter internationalem Druck gehandelt. Sie wird dies auch weiterhin tun.

Dieses Interview erschien im Public Eye Magazin Nr. 31 (September 2021). Das Magazin für Mitglieder von Public Eye erscheint 5x jährlich. Bestellen Sie unser Schnupper-Abo und erhalten Sie die nächsten drei Ausgaben unverbindlich nach Hause geschickt!