Nestlés süsse Lügen
Géraldine Viret, 16. Dezember 2025
«Alle Babys haben das Recht auf eine gesunde Ernährung, unabhängig von ihrer Nationalität oder Hautfarbe. Alle Babys sind gleich.» Diese klare Ansage kommt von 20 Organisationen der Zivilgesellschaft aus 13 afrikanischen Ländern. Und sie gilt dem neuen Nestlé-Chef Philipp Navratil.
In ihrem Schreiben vom 17. November 2025 fordern sie, dass der multinationale Konzern der Doppelmoral ein Ende setzt, welche die Recherche von Public Eye aufgedeckt hat: In Afrika enthalten die von Nestlé verkauften Getreidebreie für Säuglinge viel zugesetzten Zucker, während diese Produkte in der Schweiz und anderswo in Europa ungezuckert im Verkauf sind. «Tun Sie das Richtige. Nicht morgen. Nicht nächstes Jahr. Heute. Die Welt schaut auf Sie», endet der offene Brief.
Der Nestlé-Skandal erschüttert Afrika
Von der britischen Tageszeitung «The Guardian» über die Nachrichtenagentur Reuters bis hin zum Fernsehsender Al Jazeera fanden unsere Enthüllungen international grosse Beachtung. «Zwei verschiedene Standards für zwei verschiedene Welten», titelte etwa eine Journalistin des indischen Portals «Firstpost». Die Nachricht, dass die Gesundheit afrikanischer Babys für Nestlé offensichtlich weniger zählt, verbreitete sich auf dem gesamten Kontinent wie ein Lauffeuer und löste helle Empörung aus. In Südafrika, Senegal, Togo oder der Elfenbeinküste wurde die Forderung unserer Partnerorganisationen breit thematisiert: kein Zuckerzusatz in der in Afrika verkauften Babynahrung!
In Ländern wie Nigeria, dem wichtigsten Markt für den Getreidebrei Cerelac auf dem Kontinent, wurden Konferenzen organisiert, an denen Journalist*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Aufsichtsbehörden teilnahmen. Laut Ernährungsexperten in Lagos hat die Untersuchung von Public Eye «in ganz Afrika eine wichtige Debatte über Lebensmittelsicherheit, Unternehmensethik und Kinderschutz» ausgelöst, berichtet die nigerianische Tageszeitung «The Sun». Für viele Eltern, die Nestlé vertrauen, «haben diese Enthüllungen Fragen aufgeworfen, welche die Regulierungsbehörden und Hersteller nun wohl ausführlich beantworten müssen”, schreibt «The Sun» weiter.
Nestlé füttert Medien mit Lügen
In Vevey scheinen diese Forderungen nach mehr Transparenz und Verantwortung auf taube Ohren zu stossen. In einer Antwort an unsere Partnerorganisationen bestreitet Nestlé, mit zweierlei Mass zu messen, und behauptet lautstark: «Wir behandeln alle Kinder gleich, egal wo sie leben.»
Ein Besuch auf der Promo-Website von Nestlé für Eltern in der Schweiz zeigt jedoch, dass der Konzern für die Babys in unserem Land nur Breie anbietet, auf denen es stolz «ohne Zuckerzusatz» heisst. In Afrika hingegen enthielten 90 % der Produkte, die Inovalis – ein renommiertes Labor im Agrar- und Lebensmittelsektor – im Auftrag von Public Eye untersucht hat, reichlich zugesetzten Zucker. Mit Ausnahme von zwei kürzlich in Südafrika eingeführten Varianten waren alle ungezuckerten Produkte, die wir fanden, von Nestlé nicht für den afrikanischen Markt hergestellt. Dritte hatten diese aus Europa importiert.
Wenn die gemessenen Fakten den hehren Zielen widersprechen, greift Nestlé gerne den Überbringer der Botschaft an. «Shoot the messenger» heisst die bewährte PR-Strategie. In der Presse sagte eine Sprecherin, unser Bericht enthalte «unbegründete Anschuldigungen». Es sei zudem «irreführend und wissenschaftlich ungenau, Zucker, der in Getreide und Früchten natürlich vorkommt, als raffinierten und zugesetzten Zucker zu bezeichnen».
Unsere Untersuchungen berücksichtigten jedoch ausschliesslich Zuckerzusätze in Form von Saccharose und Honig, also explizit keinen natürlich in Getreide, Obst und Milch enthaltenen Zucker. Diese Information ist Nestlé bekannt, haben wir sie dem Unternehmen doch drei Wochen vor der Veröffentlichung unserer Untersuchung schriftlich mitgeteilt. Dies geht aus dieser E-Mail vom 28. Oktober 2025 hervor.
Da der multinationale Konzern jedoch nie um ein Stück Zucker – oder eine Lüge – verlegen ist, legt er gegenüber den Medien sogar noch nach und behauptet, Public Eye habe sich geweigert, Details seiner Untersuchung im Vorfeld offenzulegen. Das ist nachweislich falsch.
Mit der generellen Problematik des Zuckerzusatzes geht Nestlé auch nicht ehrlicher um. «Die grösste Herausforderung in Afrika ist nicht Fettleibigkeit, sondern Unterernährung», konstatiert das Unternehmen gegenüber dem «Guardian» und ignoriert dabei die alarmierenden Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Alarm schlägt und von einer «doppelten Belastung» durch beide Phänomene spricht. Die WHO warnt seit langem davor, dass eine frühe Zucker-Exposition eine dauerhafte Vorliebe für zuckerhaltige Lebensmittel fördert und einen wichtigen Risikofaktor für Fettleibigkeit darstellt.
Der Agrar- und Lebensmittelriese, der sich rühmt, mit Eisen und anderen Nährstoffen angereicherte Produkte anzubieten, zögert nicht, auch Zucker als wichtige Zutat in seinem Kampf gegen die Unterernährung in Afrika darzustellen: «Um die Unterernährung zu bekämpfen, ist es unerlässlich, über Getreide zu verfügen, das süss genug ist, damit Säuglinge es gerne essen.» Nicht nur: «Vergessen Sie nicht, dass Kinder im Alter von sechs Monaten […] das Essen verweigern können, und wenn sie das tun, können sie nicht richtig wachsen.» Ach so, sind afrikanische Babys also wählerischer und naschhafter als Schweizer Babys?
Pseudo-Massnahme soll Afrika besänftigen
Nestlé hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2025 auf all seinen Märkten Varianten ohne Zuckerzusatz einzuführen. Eine Pseudo-Massnahme, die völlig unzureichend ist, meinen die afrikanischen Organisationen, welche den Brief an Nestlé geschickt haben, weil sie keine Gleichbehandlung bringen würde. «Wenn Zuckerzusätze für Schweizer und europäische Kinder nicht geeignet sind, dann sind sie es auch nicht für Kinder in Afrika und anderswo», schreiben sie.
Oder um es mit den Worten der satirischen Westschweizer Zeitung «Vigousse» zu sagen: «So ist die Lage also: Die Welt schaut auf Nestlé, doch Nestlé scheint sich über die Welt lustig zu machen.» Wie lange noch? Zusammen mit den afrikanischen Partnern ist Public Eye fest entschlossen, den Weltkonzern mit den zwei Küken im Logo, die von ihrer Vogelmama gefüttert werden, nicht aus seiner Verantwortung zu entlassen.
Lesen Sie unsere Recherche:
« In Afrika verkauft Nestlé weiterhin Babynahrung mit viel zugesetztem Zucker »
Lesen Sie unsere Reportage:
« In Südafrika verkauft Nestlé Müttern von Babys regelrechte Zuckerbomben »