Agrobusiness im Bolsonaro-Fieber

Das Rennen um die Präsidentschaft Brasiliens ist eng: der linksgerichtete Ex-Präsident Luiz Ignacio (Lula) da Silva geht am Sonntag als Favorit in die Stichwahl. Doch auch ein Sieg des amtierenden Präsidenten und ultrarechten Jair Bolsonaro ist nicht ausgeschlossen. Dieser hat im ersten Wahlgang unerwartet viele Stimmen erhalten. Unterstützt wird er nicht nur von evangelikanischen Kreisen und der Waffenlobby, sondern mehrheitlich auch von der mächtigen Agrarlobby. Dahinter stecken nicht nur brasilianische Grossgrundbesitzer, sondern auch Schweizer Agrar- und Chemiekonzerne.

Der Agrarsektor hat mit einem Anteil von über 26% am Bruttoinlandprodukt Brasiliens nicht nur grosse wirtschaftliche Bedeutung, sondern verfügt auch über gewaltige politische Macht. Im Kongress werden die Interessen der Branche zuverlässig von der «Parlamentarischen Front für Landwirtschaft und Viehzucht» (FPA) vertreten. Mit aktuell 280 Bundesabgeordneten stellt die FPA knapp die Hälfte aller Sitze im Senat und Repräsentantenhaus und ist damit die mit Abstand wichtigste Interessensgruppe.

Der grosse Einfluss der Agrarlobby auf die brasilianische Politik ist nicht neu. Kaum ein Präsident hat sich jedoch derart kompromisslos auf die Seite des Agrobusiness geschlagen und sich explizit gegen «Ambientalistas», also Umweltschützer*innen sowie Indigene und anderen Minderheiten gestellt wie Bolsonaro. Er trieb höchst kontroverse Gesetzesprojekte voran, darunter eine faktische Legalisierung von Landgrabbing, die Ermöglichung von industrieller Landwirtschaft und Bergbau auf indigenem Land sowie die Beschneidung der politischen Rechte Indigener (auch bekannt als «Todespaket») oder die von der agrochemischen Industrie seit Jahren geforderte Aufweichung der Pestizidregulierung (das sogenannte «Giftpaket»).

Bolsonaros Attacken gegen die Umweltschutzbehörden, seine beispiellose Untätigkeit gegenüber illegaler Abholzung und seine expliziten Ermutigungen dazu, den Amazonas als Wirtschaftsraum zu erschliessen, haben katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt.

Während Bolsonaros Amtszeit hat die durchschnittliche jährliche Abholzung im Amazonasgebiet um satte 75% zugenommen.

Indigene und Amazonas-Gebiete werden häufiger und teils illegal für den Bergbau und die Viehzucht erschlossen. Damit einher geht eine beispiellose Welle der Gewalt gegen Indigene und andere Minderheiten sowie Ermordungen von zuletzt auch ausländischen Umweltaktivist*innen.

Mit patriotischen Slogan’s wie «Agro é Bolsonaro, Agro é Brasil» (die Landwirtschaft ist mit Bolsonaro, und die Landwirtschaft ist Brasilien) wird insbesondere in den agrarindustriell geprägten Gegenden für Bolsonaro geworben.

Bolsonaro zählt auf Sojamilliardäre und «Madame Deforestation»

Während der internationale Ruf Brasiliens unter Bolsonaros Kurs zunehmend Schaden nahm, blühte das Agrobusiness im Land regelrecht auf und lieferte regelmässig neue Rekordwerte beim Export von Soja und anderen Agrargütern.

Viele reiche Grossgrundbesitzer (ja, das sind grossmehrheitlich Männer) unterstützen Bolsonaro. Wie eine Analyse der brasilianischen Wahlkampffinanzierung durch Bloomberg zeigte, machten deren Zuwendungen gar den Grossteil der Spenden durch Privatpersonen von umgerechnet rund 4,2 Millionen US-Dollar aus, die Bolsonaro vor dem ersten Wahlgang Anfang Oktober erhalten hatte (Zum Vergleich: Lula hatte Privatspenden über rund 190'000 US-Dollar erhalten). Zu Bolsonaros  spendabelsten Unterstützern gehören Hugo de Carvalho Ribeiro, Milliardär und Schwager des umstrittenen «Sojakönigs» und ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Mato Grosso, Blairo Maggi. Ribeiro präsidiert das Handelsgeschäft des von Blairo Maggi mitbegründeten Agrarkonzerns und weltgrössten privaten Sojaproduzenten Amaggi. Amaggi steht wie viele der grossen Agrarhändler immer wieder wegen Abholzung in der Kritik. Ein weiterer Grossspender Bolsonaros ist Oscar Luiz Cervi, seinerseits Sojaproduzent, der in der Vergangenheit mehrfach wegen illegaler Abholzung gebüsst worden war. Auch Cervi hat Verbindungen zu Schweizer Agrarhändlern und soll beispielsweise Geschäftsbeziehungen mit Bunge unterhalten.

Direkt nach dem ersten Wahlgang Anfang Oktober – ab dem Zeitpunkt also, als ein Wahlerfolg Bolsonaros wahrscheinlicher wurde –  kündigte auch die parlamentarische «Agrarfront» (FPA) ihre vollumfängliche Unterstützung des bisherigen Präsidenten an. Dabei bekräftigte die neu als Senatorin gewählte Tereza Cristina, dass die Gruppe «keinerlei Zweifel daran habe», dass Bolsonaro «von allen Präsidenten, die das Land hatte», derjenige sei, der den Agrarsektor «am meisten unterstützt» habe. Tereza Cristina hatte sich als ehemalige Abgeordnete und FPA-Präsidentin dank ihrem Engagement für die Agrochemie einen Namen als «Giftmuse» gemacht, und wurde zuletzt wegen ihrer zweifelhaften Bilanz als Landwirtschaftsministerin unter Bolsonaro (sie war bis März 2022 im Amt) von der französischen Tageszeitung Le Monde als «Madame Deforestation» betitelt.

Gut fürs (Schweizer) Geschäft

Hinter der FPA und ihren politischen Projekten stecken jedoch nicht nur Abgeordnete, sondern mit dem Think Tank «Instituto Pensar Agropecuária» (IPA) mehrheitlich die Unternehmen der Branche. Als Zusammenschluss der 48 wichtigsten Industrieverbände der Agrarindustrie vertritt das IPA die Interessen von über tausend Firmen: von Pestizid- und Saatgut- über Zucker-, Soja- oder Rindfleischproduzenten bis zur Lebensmittelindustrie. Gewichtigen Einfluss haben in den Verbänden der IPA neben nationalen Unternehmen auch zahlreiche multinationale Konzerne, darunter die Schweizer Firmen Syngenta und Nestlé, ebenso wie die weltgrössten Agrarhändler ADM, Bunge, Cargill und LDC, die allesamt grosse Teile ihres globalen Handelsgeschäfts aus der Schweiz heraus tätigen. Selbst die Schweizer Grossbank UBS ist durch ihren Einsitz in die einflussreiche Agrarlobby «Associação Brasileira do Agronegócio» ABAG vor zwei Jahren in der IPA vertreten. Hintergrund ist ein umstrittenes Joint Venture, über das die UBS grosse Fleisch- und Sojaproduzenten in Brasilien mitfinanziert – darunter auch solche, die mit illegaler Abholzung in Verbindung stehen, wie eine Recherche der Gesellschaft für bedrohte Völker kürzlich offenlegte.

© De Olho Nos Ruralistas
Die Organisation Agribusiness Watch zählte während der Amtszeit von Jair Bolsonaro insgesamt 278 offizielle Treffen zwischen Unternehmen der Agrarindustrie und dem brasilianischen Landwirtschaftsministerium – Führend mit dabei: Schweizer Firmen.

Gemäss einer Analyse der brasilianischen NGO Agribusiness Watch gehören Syngenta, Nestlé und Cargill zudem zu den sechs Unternehmen, welche zwischen 2019 und 2022 die intensivsten und direktesten Beziehungen zur brasilianischen Politik pflegten. So hielten diese über die letzten Jahre am meisten Lobbymeetings mit dem Landwirtschaftsministerium unter Tereza Cristina ab. Über die Inhalte der Treffen ist meist wenig bekannt, der direkte Draht der Schweizer Firmen zur brasilianischen Politik scheint jedoch mehr als stabil!

Syngenta, Nestlé und Cargill verfolgen grosse Geschäfts-interessen in Brasilien, wo sie jährlich Milliardenumsätze erzielen.

Für Agrochemiemultis ist der Verkauf von hochgefährlichen Pestiziden insbesondere für den Sojaanbau eine Goldgrube. Beim Schweizer Pestizidweltmarktführer Syngenta macht das in den letzten Jahren wachsende Brasiliengeschäft rund ein Fünftel des Pestizidumsatzes aus.

Bolsonaro als reines «Imageproblem»?

Der Agrochemie gegenüber zeigte sich die Regierung Bolsonaros denn auch besonders freundlich. Während Syngenta sich wie die meisten Konzerne zur anstehenden Wahl nicht direkt äusserte, gab sich Christian Lohbauer, der Präsident von Croplife, des wichtigsten Interessensverbands von Syngenta & Co. in Brasilien, kürzlich ungewohnt offen. An einer Agrarmesse bedauerte Lohbauer im Juli 2022 dem britischen Magazin «The Grocer» gegenüber zwar das «schreckliche» Image Bolsonaros im Ausland, befand aber zugleich, dass der aktuelle Präsident für Brasilien «die am wenigsten schlechte Option» sei. Unter der vorherigen Regierung sei es «wirklich schwierig» gewesen, die «Zulassung für Chemikalien zu erhalten», erklärte Lohbauer. Bolsonaro dagegen hat die Zulassung neuer Pestizidprodukte derart beschleunigt, dass während seiner Amtszeit sagenhafte 1801 neue Pestizidprodukte zugelassen wurden (wovon fast die Hälfte in der EU verbotene Wirkstoffe enthielten). Würde Bolsonaro verlieren, seien auch seine politischen Projekte dahin, so Lohbauer (meinen dürfte er damit unter anderem das kontroverse «Giftpaket»).

Mit anderen Worten: Abholzung und Menschenrechtsverletzungen hin oder her, Bolsonaros Politik ist gut fürs (Schweizer) Geschäft – solange der Imageschaden nicht ausufert.

Der erste Wahlgang war ein Erfolg für die Agrarlobby. Ihre Abgeordneten konnten in beiden Kammern bereits zahlreiche Sitze verteidigen. Der Senat wird deutlich konservativer werden. Viele der zurzeit im Kongress noch hängigen höchst umstrittenen Gesetzesprojekte Bolsonaros - darunter auch das «Giftpaket» und das «Todespaket» – könnten daher angenommen werden – selbst wenn Lula, der die ungebremste Abholzung im Amazonas und die Unterdrückung der Indigenen stoppen will, gewinnt. Sollte Bolsonaro wiedergewählt werden, kommt dies einem Freipass fürs Agrobusiness gleich. Der «wirtschaftlichen Erschliessung des Amazonasgebietes» steht dann wohl wenig im Weg. Die Schweizer Agrar- und Chemiefirmen dürfte es – hinter vorgehaltener Hand – freuen.

«Augen auf und durch!» (Autor*in unbekannt)

Carla Hoinkes beschäftigt sich bei Public Eye mit Landwirtschaftsfragen und nimmt die globalen Geschäfte der Agrarindustrie unter die Lupe. Sie lernt immerzu gern Neues über Mensch, Kraut und Rüben (und hofft, dass ihr auch selbst mal noch ein grüner Daumen wächst).

Kontakt: carla.hoinkes@publiceye.ch
Twitter: @carlahoinkes

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