Auch die Schweiz setzt aufs Recht des Stärkeren
Oliver Classen, 12. September 2025
Was die grösste Volkswirtschaft der Welt brachial vorexerziert, praktiziert die Schweiz etwas dezenter, aber dafür schon lange: die nachdrückliche Durchsetzung ökonomischer Eigeninteressen. Zugleich präsentiert sich der Bundesrat gerne als Hüter jenes regelbasierten Multilateralismus, den er für einzelne Schweizer Schlüsselsektoren aber häufig unterwandert oder sabotiert. Konkret: Bundesbern hilft «seinen» Grosskonzernen im Handel mit einkommensschwächeren Ländern auch dann beim Geschäften, wenn dies auf Kosten der dortigen Bevölkerung und damit von Menschen- und Umweltrechten geht.
Patentierte Mega-Margen
Beispiel 1: Der Patentschutz bei Medikamenten ist zentral für Big Pharma und deshalb auch für die Schweizer Aussenwirtschaftspolitik. Roche, Novartis und Co. wiederum sind – wegen ihres Beitrags zum BIP wie zu den Exporten – das Rückgrat unserer Wirtschaft. Dank Patentschutz geniessen viele ihrer lebenswichtigen Produkte ein Monopol, weshalb sie deren Preise – vom Globalen Süden bis in die unterregulierten USA – fast nach Belieben festlegen können. Rechtliche Grundlage wäre seit 1995 eigentlich das Trips-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO).
Die offizielle Schweiz foutiert sich aber häufig um diesen globalen Standard. In den Freihandelsabkommen mit Ländern mit starker Generikaindustrie wird das besonders deutlich. Der Kampf für immer noch grösseren Schutz des geistigen Eigentums gehört seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire der Schweizer Handelsdiplomatie. Und wenn Staaten wie Indien trotzdem nicht nachgeben, werden deren Patenteinsprüche – wie im Fall des Krebsmedikaments Glivec von Novartis – juristisch angefochten.

Diese Klagestrategie verfolgt der Basler Konzern auch in den USA, zum Beispiel bei Entresto, einem Präparat gegen Herzinsuffizienz, dessen 13 dortige Patente eine Marktexklusivität von fast 40 Jahren sichern. Doppelt so lange wie in den WTO-Regeln vorgesehen.
Mit ihrer Patent-getriebenen Aussenwirtschaftspolitik sichert die Schweiz ihren Pharma-Cash-Cows nicht nur Milliardengewinne, sondern behindert auch den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten. Üblicherweise für die Menschen in den einkommensärmsten Ländern, aufgrund ihrer fehlenden Preisregulierung aber eben auch in den USA. Der Erfolg dieser Strategie wird nun jedoch zum Bumerang: Wegen drohenden US-Zöllen von bis zu 250 Prozent lobbyiert Big Pharma nun auch in Europa und der Schweiz für massive Deregulierung und Preiserhöhungen.
Wohlstand durch systematische Wertabschöpfung
Beispiel 2: Erklärtes Ziel der trumpschen Strafzölle ist die Steigerung der inländischen Wertschöpfung durch die Repatriierung abgewanderter Produktionsbetriebe und Arbeitsplätze. Die Schweiz hingegen profitiert durch ihre vielen Konzerne, die häufig den Grossteil ihrer Wertschöpfungskette kontrollieren, von jener (auf Freihandel basierenden) Globalisierung, als deren Opfer sich die US-Wirtschaft jetzt sieht. Das ökonomische Erfolgsrezept der Schweiz beruht nämlich auf der Helvetisierung ausländischer Güter und Gelder, primär durch ihre eng miteinander verzahnten Finanz- und Rohstoffhandelsplätze.
Zudem zieht die Alpenrepublik durch systematisches Steuerdumping seit Jahrzehnten jede Menge Steuersubstrat aus dem Ausland ab.
Anders als die USA können sich einkommensschwächere Länder gegen diese parasitäre Art der Profitmaximierung kaum wehren. Dass die Welt am Schweizer Wirtschaftswesen nicht genesen kann, zeigt sich auch beim Rohstofffluch. Der Begriff steht für die traurige Tatsache, dass ressourcenreiche Länder im Globalen Süden besonders häufig in Armut verharren und besonders stark unter Korruption und Konflikten leiden. Hauptgrund dafür ist die ungerechte Verteilung der Rohstofferträge zwischen den Förderländern und den dort tätigen Konzernen, von denen viele nicht zufällig ihren Hauptsitz in Zug oder Genf haben.
Glencores neue Economiesuisse-Mitgliedschaft als Symptom
Der Rohstoffhandel bringt das alte Schweizer Geschäftsmodell der systematischen Wertabschöpfung in anderen Ländern zu neuer Blüte. Davon zeugten zuletzt die in den Krisen- und Kriegsjahren erzielten Rekordgewinne, für deren Steuererträge sich Karin Keller-Suter jüngst artig bei der Rohstoffbranche bedankte. Bezeichnend ist auch, dass Glencore nach Jahren der Warteschlaufe kürzlich in Verband und Vorstand von Economiesuisse aufgenommen wurde: Der ehemalige Schandfleck gehört nun ganz selbstverständlich zum Machtzentrum der Schweizer Wirtschaft.
Die bürgerliche Politik stellt sich bedingungsloser denn je in deren Dienst. Überfällige Reformen sind zwar in der parlamentarischen Pipeline. Doch Vorhaben wie mehr Konzernverantwortung, ein besseres Geldwäschereigesetz oder die globale Mindeststeuer sind heute zum Abschuss freigegeben. Im Gegensatz zu den Nullerjahren soll der politische Druck aus den USA diesmal ganz aufs Konto der Konzernschweiz einzahlen.

«Team Switzerland» ist eine ironische Pointe
Aktuelles Symbol des helvetischen Primats der Wirtschaft über die Politik ist das «Team Switzerland», das für den Bundesrat die Kohlen aus dem im Oval Office brennenden Kaminfeuer holen soll. Was als Wirtschaftsdelegation immer schon mit am Tisch sass, ist nun faktisch mit der Verhandlungsführung betraut. Diese Equipe besteht nun aber ausgerechnet aus Vertretern jener oben erwähnten Branchen, die exemplarisch für das von der US-Regierung zu Recht kritisierte «Geschäftsmodell Schweiz» stehen. Sprich: Die Täter aus Big Pharma, Vermögensverwaltung und Rohstoffhandel vertreten das kleinstaatliche Opfer der Trumpschen Zollwillkür. So ironisch kann Handelspolitik sein.
Will sich die Schweiz international glaubhaft als integre und verlässliche Geschäftspartnerin profilieren, muss sie ihre global tätigen Konzerne regulieren und eine nachhaltige, gerechte und damit zukunftstaugliche Aussenwirtschaftspolitik verfolgen.
Und nicht, wie Trump, weiter auf das Recht des Stärkeren pochen.

«Als Spin Doktor und Schreiberling weiss ich: Die Wahrheit ist ein Näherungswert, keine Ansichtssache. Guter Journalismus weiss und zeigt das.»
Oliver Classen ist seit über zehn Jahren Mediensprecher von Public Eye. Zudem schrieb er am Rohstoff-Buch mit und koordinierte mehrere Jahre die Public Eye Awards (2000-2015) in Davos. Vorher arbeitete er für verschiedene Zeitungen, darunter die Handelszeitung und der Tagesanzeiger.
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