Die dreisten Auslands­strate­gien der Schweizer Tabakkonzerne

Die Abstimmung zur Initiative «Kinder ohne Tabak» bringt eine Branche in die Bredouille, deren Produkte die Gesundheit unzähliger Menschen schädigen. Und die Raucher*innen in Afrika versorgt sie aus der Schweiz mit Stoff, der so giftig ist, dass er hier nicht zugelassen und in der EU nicht mal produziert werden kann.

2019 hatte die freie Journalistin Marie Maurisse in einer von Public Eye mit dem Investigation Award ermöglichten Recherche aufgedeckt, dass die Zigaretten, welche die Tabakkonzerne aus der Schweiz nach Afrika exportieren, viel giftiger sind als jene für den europäischen und Schweizer Markt: Glimmstängel, die in Schweizer Fabriken hergestellt, aber zum Beispiel in Marokko verkauft werden, sind viel stärker, gesundheitsschädlicher und haben ein wesentlich höheres Suchtpotenzial als Zigaretten, die hier zu kaufen sind.

Dahinter steckt einer jener politischen Winkelzüge, mit denen sich die offizielle Schweiz im Verbund mit der Schweizer Wirtschaft und ihren Lobbyist*innen überall dort zur Insel der Freiheit macht, wo viel Kohle zu holen ist. So hat die Schweiz die Tabak­richtlinie der Europäischen Union bis heute nicht übernommen. Diese trat 2014 in Kraft und verbietet unter anderem die Produktion von starken Tabak­waren: In der EU dürfen keine Zigaretten mehr hergestellt werden, deren Emissions­werte über 10 Milli­gramm Teer, 1 Milli­gramm Nikotin und 10 Milli­gramm Kohlen­monoxid liegen.

Drei Männer sortieren Tabakblätter an einem Tisch in einer Lagerhalle in La Broye (Schweiz). © Mark Henley
In der Waadtländer Region La Broye werden 80% der ca. 1000 Tonnen Tabak angebaut und getrocknet, welche die Schweiz jährlich selber produziert.

Tabak-Lobbying für die Kantone

Nicht so hierzulande: Wir freien Schweizer*innen lassen uns von der EU doch nicht das Geschäft vermiesen. So dachte der Neuenburger Nationalrat Laurent Favre, als er 2010 in einer Motion forderte, «das Dossier Tabak aus den Verhandlungen mit der EU über ein Abkommen im Bereich öffentliche Gesundheit» auszuschliessen. Es gehe hier nicht um Gesundheitsschutz, sondern um «das Kerngeschäft der Tabakindustrie in der Schweiz»: von Philip Morris International (PMI) in Neuenburg und im Waadtland, von British American Tobacco (BAT) im Jura und im Waadtland, von Japan Tobacco International (JTI) in Luzern und Genf. «Für diese fünf Kantone geht es um viel», so Favre weiter: um Arbeitsplätze (5000 direkt in der Tabakindustrie Beschäftigte) und um Hunderte von Millionen Franken Steuereinnahmen aus dem Export.

Der FDP-Politiker wusste, wovon er sprach: Ein Jahr vor seinem Vorstoss hatte Philip Morris in Neuenburg ein 120 Millionen Franken teures Forschungs- und Entwicklungs­zentrum eröffnet, das dem Kanton über 400 Arbeitsplätze bescherte. 2012 überwiesen National- und Stände­rat Favres Motion. Die Neuenburger Wähler*innen wussten es ihm zu danken: Seit 2014 ist der Zigaretten-Lobbyist Regierungsrat.

Tabakblätter trocknen in einer Halle in La Broye (Schweiz). © Mark Henley
Auch die Verarbeitung erfolgt in der Region; die Wertschöpfung im Raum Broye-Freiburg liegt bei 20 bis 30 Millionen Franken.

Marokko ist wichtigster Auslandsmarkt

Dank Favre blieb der Export die zentrale Ertragssäule der drei Schweizer Tabakkonzerne – rund 75% der hiesigen Produktion werden ausgeführt. Das war schon vor drei Jahren so, als Public Eye darüber berichtete. Neu ist aber Marokko statt Japan das wichtigste Abnehmerland. Von Januar bis November 2021 wurden mit gut 4 Milliarden Stück schon mehr Zigaretten in das afrikanische Land exportiert als in den Gesamtjahren 2018 oder 2019. Auf Platz 2 liegen Südafrika und Saudi-Arabien mit je 3,4 Milliarden.

Afrika und der Nahe Osten sind für unsere Nikotin-Dealer eminent wichtig: Während in Europa und den USA immer weniger (konventionell) geraucht wird, tun es dort immer mehr. Das zeigen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation. Die Schweizer Tabakindustrie verlagert ihr toxisches Geschäftsmodell also ohne Skrupel ins unterregulierte Ausland, wo sie primär Jugendliche im Visier hat. Denn die rauchen und zahlen länger. 

Kein Wunder, legen sich die Konzerne bei uns im Vorfeld von «Kinder ohne Tabak» mächtig ins Zeug. Und das nicht zuletzt bei jenen, die für die Meinungsbildung in unserer Demokratie eine zentrale Rolle spielen: den Journalist*innen. Besonders Japan Tobacco International (JTI) tut sich dabei hervor. Der Konzern mit Sitz in Carouge GE und Produktionsstandort in Dagmersellen LU ist Goldsponsor des Zürcher Journalistenpreises und unterstützt seit Jahren den Branchenkongress Swiss Media Forum, wie die «Medienwoche» 2021 schrieb. Doch die schreibende Zunft bleibt kritisch: Selbst die wirtschaftsfreundliche NZZ bezeichnet die Schweiz heute als «Paradies für Tabakkonzerne».

Im Komitee gegen die Initiative sind natürlich alle Standortkantone der Konzerne prominent vertreten, wobei der JTI-Heimkanton Luzern mit fünf von neun Nationalrät*innen und einem Ständerat obenauf schwingt. Die deutlich grössere Waadt mit je einem Firmensitz von BAT und PMI kommt immerhin auf fünf Nationalrät*innen.

Aber es geht ja nicht um Geld, es geht um Freiheit.

«Ich glaube, dass jeder von uns nach dem beurteilt werden sollte, was er getan hat. Wenn wir den Reden Glauben schenken würden, wären wir alle gut und untadelig.» Giovanni Falcone, italienischer Mafiarichter, 1992 ermordet

Romeo Regenass hat als langjähriger Wirtschaftsjournalist erfahren, wie aus der Sicht der Unternehmen der Zweck oft die Mittel heiligt. Nach einem in jeder Hinsicht lehrreichen Abstecher in die Kommunikation ist er froh, sich als Redaktor des Magazins von Public Eye wieder Journalist schimpfen zu dürfen.

Kontakt: romeo.regenass@publiceye.ch

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