Klima retten? Oder Hunger beenden? Lieber Urlaub im Weltraum!

Was für ein Spektakel im Juli 2021: Drei Milliardäre liefern sich einen Wettkampf, wessen Rakete am höchsten fliegt, und die ganze Welt schaut zu. Isoliert betrachtet eine lustige Episode der Weltgeschichte, womöglich Stoff für eine Comedy-Serie auf Netflix oder Amazon Prime. Doch die Ausflüge in den Orbit markieren vor allem einen neuen Höhepunkt der Dissonanz in unserer Welt.

Während die drei Herren zum Spass Raketen durch die Ozonschicht schiessen und die Atmosphäre verpesten, als gäbe es keine Klimakrise, sterben Menschen bei Rekordhitzewellen in Nordamerika und Überflutungen in Europa und Asien. Und nur wenige Stunden, nachdem der erste Raketen-Milliardär seine Heldentat mit Champagner begoss, meldete das Welternährungsprogramm eine dramatische Verschlimmerung des Welthungers.

Extreme soziale Ungleichheit bedroht die Demokratie und das Klima

Extreme Ungleichheit ist nicht nur ungerecht, sie kann auch zur Bedrohung für die Demokratie werden.  An der Urne zählt jede Stimme gleich viel, doch was ist, wenn im öffentlichen Diskurs und in den Ohren von Entscheidungsträger*innen reiche Stimmen teilweise sehr viel mehr Gewicht erhalten? Wenn Superreiche oder Konzerne ihre Macht einsetzen, um politische Prozesse oder mediale Berichterstattung zum eigenen Vorteil zu beeinflussen, wird der Abbau von Ungleichheit erschwert und das Vertrauen in die Demokratie untergraben.

Hochrechnungen des Stockholm Environment Institute und Oxfam zufolge verursachte das einkommensreichste Prozent der Weltbevölkerung 2015 mehr als doppelt so viel klimaschädliche Emissionen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Je weiter man die Reichtumspyramide nach oben schaut, um so drastischer steigen die Emissionen, wobei klimaschädliche Kapitalanlagen und Flüge die grössten Posten im Klimafussabdruck der Ultra-Reichen darstellen. Klimagerechtigkeit und Klimaschutz sind also eng verwoben mit Fragen von sozialer Ungleichheit.

Sogar die Weltbank muss heute der Tatsache ins Auge sehen, dass sich Armut nur erfolgreich bekämpfen lässt, wenn die extreme Ungleichheit reduziert und die Wirtschaft so gestaltet wird, dass sie Wohlstand in der Breite statt an der Spitze der Gesellschaft mehrt. Der Internationale Wahrungsfond (IMF), einst die Bastion neoliberaler Wirtschaftspolitik, versucht mit einem fast schon lustigen Video-Clip den Eindruck zu erwecken, der Kampf gegen Ungleichheit sei schon immer sein Herzensanliegen gewesen.

Weitere Informationen

  • Was ist soziale Ungleichheit?

    Unter Sozialer Ungleichheit verstehen wir Unterschiede zwischen Menschen oder Gruppen von Menschen einer Gesellschaft bezüglich ihrer Verfügungsgewalt über materielle und immaterielle wirtschaftliche Ressourcen (wie Kapital und Produktionsmittel, Lohn und Einkommen, Güter, Dienstleistungen und Vermögenswerte, Land und Immobilien, natürliche Ressourcen, Daten, Patente und andere immaterielle Eigentumsrechte), die einen starken bestimmenden Einfluss auf ihre gesellschaftliche Position, ihre mögliche Lebensweise und -perspektive, ihre gesellschaftliche Teilhabe sowie ihren Einfluss auf wirtschaftliche und politische Entscheidungen haben.

    Soziale Ungleichheit ist eng verwoben mit anderen, nicht primär ökonomischen Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit und Diskriminierung, z.B. nach Gender und Herkunft (Intersektionalität von Ungleichheit).

«Excessive inequality is bad for growth. But it isn‘t inevitable.» IMF-Video, Quelle: imf.org/inequality

Bemerkenswert dabei: nicht der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit, sondern die Angst vor stockendem Wirtschaftswachstum und Unruhen treiben den IMF an.

Soziale Ungleichheit nimmt zu

Die Credit Suisse schätzt, dass das reichste Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung im Jahr 2019 43,4% des weltweiten Vermögens auf sich vereinte. Nach Berechnungen von Oxfam besassen die 2’153 Dollar-Milliardär*innen der Welt (nur jede neunte davon ist eine Frau) mehr Vermögen als die ärmsten 60% der Weltbevölkerung (4,6 Milliarden Menschen), welche über praktisch keinerlei Rücklagen für Krisenzeiten verfügen.

Und die Schere öffnet sich weiter: 2020 stürzten die Folgen der Pandemie zwischen 119 und 124 Millionen Menschen in extreme Armut; Forbes vermeldete hingegen einen neuen Rekordzuwachs auf ihrer globalen Milliardärsliste. Auch national ist Reichtum extrem ungleich verteilt: der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) rechnet in seinem Verteilungsbericht 2020 vor, dass in der Schweiz das reichste Prozent 42,3% des Reinvermögens besitzt, drei Viertel aller Vermögen gehören den reichsten 10%. Zugleich nimmt auch hierzulande die Armutsgefährdung zu.

Extreme Ungleichheit spaltet die Gesellschaft in eine kleine Minderheit, die zum Spass Urlaub im Weltall plant, und eine grosse Mehrheit, für die bezahlbarer Wohnraum an zentraler Lage ein Traum bleibt, u.a. auch, weil Reiche über Anlagegesellschaften den Immobilienmarkt leerkaufen und Preise in die Höhe treiben.

Die Schweiz an der Spitze der Ungleichheitspyramide

Die Schweiz ist nicht nur eine Steueroase für Grosskonzerne, sondern auch ein Zufluchtsort für Ultra-Reiche, und nach Hong Kong der Staat mit der höchsten Milliardärsdichte auf der Welt. Basel, Zürich und Genf gehören zu den globalen Top 5 der Städte mit dem höchsten Anteil an Utra-Reichen (>30 Millionen US-Dollar Vermögen). Auf globale Vermögensungleichheit blicken viele in der Schweiz also von einer Aussichtsplattform an der Spitze der Pyramide. Es mag auch an dieser Perspektive liegen, dass sich das Märchen der «trickle-down economics» hierzulande besonders beharrlich hält, wonach eine Wirtschaftspolitik, die Grossunternehmen und Reiche hätschelt, über kurz oder lang allen dient. Doch wer über den Tellerrand schaut realisiert schnell, dass der politische Wind dreht und längst nicht mehr nur soziale Bewegungen, sondern politische Institutionen bis hin zum Weissen Haus die Gefahr extremer Ungleichheit benennen und zumindest zaghaft einen anderen Kurs einschlagen.

Extreme soziale Ungleichheit entsteht nicht zufällig. Sie ist Ergebnis einer Politik, die Gemeinwohlvorgaben für Investitionen vernachlässigt und zugleich Kapitaleinkünfte und Erbschaften gegenüber Lohneinkommen bevorzugt.

Die 99%-Initiative setzt hier an: Kapitaleinkommen von mehr als 100'000 CHF pro Jahr sollen höher besteuert werden. Um einen solchen Kapitalertrag zu erwirtschaften, braucht es rund 3 Millionen CHF. Die Symbolkraft der Schweizer Steuerpolitik ist international hoch. Ein JA zur stärkeren Kapitalbesteuerung zwecks Umverteilung auf einkommensärmere Haushalte und zur Stärkung des Service Public würde daher über die Landesgrenze hinaus eine Wirkung entfalten, und könnte auch Anknüpfungspunkt für weitergehende globale Umverteilungsdebatten bieten.


Lesen Sie auch den zweiten Teil zu Sozialer Ungleichheit: «Der Abbau extremer sozialer Ungleichheit: Eine demokratische Aufgabe»

«Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.» (Erich Fried)

David Hachfeld hat ein Faible für die Schattenseiten der Konsumwelt. Er kämpft mit der Clean Clothes Campaign für Arbeitsrechte und Gerechtigkeit in der globalisierten Textilindustrie.  

Kontakt: david.hachfeld@publiceye.ch
Twitter: @DHachfeld

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Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.  

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