Evergreening Der Missbrauch von Patenten durch Roche gefährdet die Gesundheit
Patrick Durisch, 6. November 2025
Herceptin ist seit seiner Markteinführung Ende der 1990er-Jahre in den USA, der Schweiz und der Europäischen Union (EU) einer der grössten Verkaufserfolge von Roche. Mit dem Medikament wird eine besonders aggressive Form von Brustkrebs behandelt, der HER2-positive Brustkrebs, von dem weltweit jährlich mehr als 400'000 Menschen neu betroffen sind. Zusammen mit drei davon abgeleiteten Behandlungen – Perjeta, Kadcyla und Phesgo – erzielte Roche damit bis heute einen Gesamtumsatz von über 156 Milliarden Franken – eine regelrechte Goldgrube für den Basler Konzern.
Wie kommt es in einem als sehr umkämpft geltenden Pharmamarkt zu einer solchen Langlebigkeit und Profitabilität? Herceptin war sicherlich ein Durchbruch in der Behandlung dieser Krebsart. Aber das ist nicht der einzige Grund für seinen Erfolg. Wie unsere Recherche zeigt, hat Roche alle möglichen Register gezogen, um sein Monopol auszubauen und den Wettbewerb so lange wie möglich zu verhindern.
In dieser zweiten Folge über missbräuchliche Monopole der Pharmaindustrie haben wir die unzähligen Patente analysiert, die diese vier Behandlungen schützen. Die aus monoklonalen Antikörpern (auf Englisch «monoclonal antibodies» oder «mAb») bestehenden Wirkstoffe Trastuzumab und Pertuzumab gehören zur Familie der sogenannten «biologischen» Arzneimittel, die durch besonders viele Patente geschützt sind.
Arzneimittel gelten als biologisch, wenn sie aus lebenden Zellen oder Organismen hergestellt werden. Da ihre Herstellung komplexer ist als die von klassischen Arzneimitteln, die aus inerten Substanzen produziert werden, unterliegen sie einer grösseren Anzahl von Patenten, insbesondere für die Herstellungsverfahren, wodurch die Entwicklung und Vermarktung von Biosimilars behindert wird. Biosimilars ist die Bezeichnung für die Generika von biologischen Arzneimitteln.
Weitere Informationen
-
Missbräuchliche Patente der Pharmaindustrie, die Serie von Public Eye
Public Eye dokumentiert und enthüllt langfristig Themen von öffentlichem Interesse. Im September 2024 haben wir eine Serie gestartet, die den Einsatz missbräuchlicher Patente bei Bestseller-Medikamenten aufdeckt, eine Praxis, welche die Gesundheitskosten in der Schweiz und im Ausland belastet. Dieser Artikel ist der zweite Teil dieser Serie. Der erste Teil zum Herzschwäche-Medikament Entresto von Novartis kann online und im Magazin vom September 2024 gelesen werden.
Patente bilden einen Schutzwall
Insgesamt haben wir in den USA 183 Patente gezählt, die Roche in Verbindung mit diesen beiden Wirkstoffen erteilt wurden, sowie 95 in Europa, die auch in der Schweiz gültig sind. Ende September 2025 waren noch 100 bzw. 64 davon in Kraft. Rund 20 weitere Patentanmeldungen wurden zu diesem Zeitpunkt auf beiden Seiten des Atlantiks noch geprüft (siehe Infografik unten).
Mangels eines bestehenden Inventars sind diese Zahlen das Ergebnis einer minutiösen und beispiellosen Recherche auf der Grundlage offizieller Quellen. Um die Liste der Patente in Verbindung mit Trastuzumab und Pertuzumab zu erstellen, haben wir uns auf Gerichtsdokumente, Regulierungsbehörden, staatliche Patentämter und die Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo) sowie auf wissenschaftliche Artikel und andere Publikationen gestützt. Angesichts der Schwierigkeit, einen solchen Überblick zu erstellen, ist es möglich, dass die tatsächliche Liste der Patente von Roche für diese Behandlungen noch länger ist.
Weitere Informationen
-
Die Medikamente von Roche gegen HER2-positiven Brustkrebs
Unsere Recherche konzentriert sich auf die vier Medikamente von Roche gegen HER2-positiven Brustkrebs.
Herceptin: Das erste Medikament von Roche gegen diese Krankheit enthält den Wirkstoff Trastuzumab. Mit bisher über 100 Milliarden Franken ist es eines der umsatzstärksten Produkte des Konzerns. Im Jahr 2024 lag Herceptin trotz des Markteintritts von Biosimilar-Konkurrenzprodukten mit fast 1,4 Milliarden Franken immer noch auf Platz 12 der Umsatzrangliste des Konzerns.
Perjeta ist seit 2012 auf dem Markt und gehört seit zehn Jahren zu den fünf meistverkauften Produkten von Roche, wodurch der Konzern seit seiner Markteinführung einen Umsatz von über 34 Milliarden Franken erzielen konnte. Der Blockbuster enthält den Wirkstoff Pertuzumab und wird in der Regel in Kombination mit Herceptin und einer Chemotherapie verabreicht. Eine solche Kombinationstherapie kostete bis 2022 mehr als 100'000 Franken pro Jahr, bevor der Preis für Herceptin aufgrund der Markteinführung von Biosimilars sank. Public Eye hat die überhöhten Preise dieser Behandlung ausführlich dokumentiert und kritisiert.
Kadcyla und Phesgo: Diese beiden Medikamente, die seit 2013 bzw. 2020 auf dem Markt sind, bestehen ebenfalls aus den Wirkstoffen Trastuzumab und Pertuzumab. Phesgo ist eine Fixdosiskombination aus Perjeta und Herceptin in einer einzelnen Durchstechflasche. Durch ihre Markteinführung konnte Roche sein Monopol auf alle diese Behandlungen ausbauen.
Der Dschungel der Sekundärpatente
Bei nur 5% aller Patente handelt es sich um Primärpatente, die den aktiven Wirkstoff schützen. Die restlichen 95% sind Sekundärpatente, die Ansprüche auf ein Herstellungsverfahren (40%), Formulierungen, Dosierungen oder Verabreichungsarten (30%), Anwendungsmethoden (13%) oder auf Kombinationen mit anderen Wirkstoffen (12%) erheben. Diese Sekundärpatente beziehen sich nicht auf den Wirkstoff, der identisch bleibt. Sie überfluten jedoch die Patentämter, die immer mehr Prüfungen durchführen müssen – mit dem Risiko, dass die Patente aufgrund der Überlastung zu leichtfertig erteilt werden – und verlängern die Dauer des Monopols, ohne dass ein echter therapeutischer Gewinn erzielt wird.
Die als «Evergreening» bekannte missbräuchliche Anhäufung von Sekundärpatenten auf Heilmittel ist eine gängige Praxis in der Branche, mit der die Markteinführung von Konkurrenzprodukten verzögert und das Monopol einer Behandlung verlängert werden kann.
Im Fall von Trastuzumab und Pertuzumab haben wir beispielsweise 16 von Roche in den Vereinigten Staaten angemeldete Sekundärpatente mit identischem Titel identifiziert, von denen 13 erteilt wurden (siehe Illustration unten).
Eine weitere Strategie besteht darin, eine neue Version eines Arzneimittels auf den Markt zu bringen, dessen Primärpatent ausläuft. Kurz vor Ablauf der Patente für Herceptin änderte Roche die Art der Verabreichung von einer intravenösen zu einer subkutanen Injektion und schützte das Produkt mit mehreren Sekundärpatenten, wodurch das Monopol de facto verlängert wurde. Diese neue Verabreichungsform eines bestehenden Produkts ist zwar einfacher und von Vorteil für das medizinische Personal und die Patient*innen. Doch rechtfertigt sie ein um 20 Jahre verlängertes Monopol zu Höchstpreisen?
Mit der Markteinführung von Perjeta und Phesgo, 14 bzw. 22 Jahre nach Herceptin, konnte der Basler Konzern sein Monopol ebenfalls weiter ausbauen. Die entsprechenden Patente haben die Vorherrschaft von Roche auf diesem Markt in den USA bis 2042 und in Europa und der Schweiz bis 2039 verlängert (siehe Grafiken unten).
Insgesamt kann Roche seit der Anmeldung seines ersten Patents im Jahr 1992 mit einem Monopol von fast 50 Jahren in den Vereinigten Staaten und 47 Jahren in Europa für sein Herceptin rechnen. Das ist deutlich mehr als doppelt so viel wie die 20 Jahre, die im Abkommen über geistige Eigentumsrechte (Trips) der Welthandelsorganisation (WTO) vorgesehen sind.
Klagen zur Verzögerung des Wettbewerbs
Das Primärpatent für Herceptin ist in Europa seit 2014 und in den Vereinigten Staaten seit 2019 abgelaufen. Derzeit sind sieben Biosimilars im Handel. Sie sind nicht überall erhältlich und können nur intravenös verabreicht werden, da die subkutane Version der Roche-Produkte noch bis 2038 durch Sekundärpatente geschützt ist.
Seit 2017 verklagt Roche Hersteller von Biosimilars in den Vereinigten Staaten, sobald sie einen Zulassungsantrag bei der Arzneimittelbehörde gestellt haben. Wir haben acht Klagen gezählt, die eine Vielzahl von Patenten betreffen: sieben zwischen 2017 und 2023 gegen Hersteller von Biosimilars für Herceptin wegen angeblicher Verletzung von bis zu 40 Patenten und eine seit August 2025 gegen einen Hersteller von Biosimilars für Perjeta bezüglich 24 seiner Patente (siehe Grafik unten). Pikanter Punkt: 88% bzw. 80% der in den Klagen von Roche geltend gemachten Patente wurden nach Markteinführung des Originalprodukts angemeldet. Mit anderen Worten: In den Rechtsstreitigkeiten werden Verfahren verteidigt, die der Basler Pharmariese bei der Herstellung und Markteinführung seiner eigenen Produkte gar nicht verwendet hat.
Das Ergebnis: In der Schweiz, in Europa und in den USA kommen Biosimilars erst lange nach Ablauf des Primärpatents des Originalprodukts auf den Markt. Damit bezahlen Patient*innen und Gesundheitssysteme unnötig lange die hohen Monopolpreise. Wer sich diese nicht leisten kann, sieht seine Gesundheit gefährdet.
Rechtsstreitigkeiten in Indien und Südafrika
Roche geht auch in anderen Ländern rechtlich vor. In Indien verzichtete der Basler Konzern 2013 angesichts der drohenden Erteilung einer Zwangslizenz auf sein einziges Patent für Herceptin, was in dieser Branche äusserst selten vorkommt. Allerdings reichte Roche einige Monate später Klage gegen einen Hersteller von Biosimilars ein. Auch wenn das Verfahren nicht zu seinen Gunsten verlief, konnte Roche damit die Markteinführung eines Konkurrenzprodukts um drei Jahre verzögern.
Im Jahr 2024 verklagte Roche einen weiteren indischen Hersteller eines Biosimilars von Perjeta wegen angeblicher Verletzung seiner beiden Patente – zunächst erfolgreich, doch dann änderte der Oberste Gerichtshof von Delhi seine Meinung radikal. Die Verfahren laufen immer noch.
In Südafrika haben die Wettbewerbsbehörden 2022 eine Klage gegen Roche wegen angeblicher überhöhter Preise für Herceptin eingereicht. Die Beratungen sind noch im Gange. Mit der Markteinführung eines Biosimilars von Herceptin im Jahr 2019 konnte der Preis für die intravenöse Behandlung gesenkt werden. Allerdings ist die subkutane Form des Medikaments, die weiterhin patentiert ist, auch fast 25 Jahre nach der Markteinführung für die Mehrheit der südafrikanischen Patient*innen nach wie vor unerschwinglich.
Der Preis des Monopols
In Südafrika und in anderen Ländern sichern Sekundärpatente und das daraus resultierende Monopol Roche einen starken Hebel, um seine überhöhten Preise für HER2-positive Brustkrebsbehandlungen durchzusetzen, wie wir bereits 2018 dokumentiert haben. In der Schweiz schreckt Roche nicht davor zurück, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) unter Druck zu setzen, um seine Preise zu erzwingen. Da der Basler Konzern mit dem vom Bund geforderten Preis unzufrieden war, strich er Perjeta 2014 von der Liste der von der obligatorischen Krankenversicherung (Grundversicherung) erstatteten Medikamente. Diese Erpressung zahlte sich für das Unternehmen aus, da Perjeta ein Jahr später mit einem höheren tatsächlichen Preis wieder aufgenommen wurde.
Diesen Sommer hat Roche diese Strategie für ein weiteres seiner Krebsmedikamente eingesetzt, Lunsumio. Anfang November fehlte es immer noch auf der Liste der von der Grundversicherung erstatteten Medikamente.
Ultradominante Stellung von Roche
Dank der Patentschutzwälle, die Roche über mehr als 30 Jahre hinweg errichtet hat, hat der Konzern eine ultradominante Stellung im Bereich der Therapien für HER2-positiven Brustkrebs und ganz allgemein auf dem Gebiet der monoklonalen Antikörper («mAb») erlangt.
Diese Behandlungen basieren auf jahrzehntelanger akademischer Forschung und Hunderten Millionen an öffentlichen Geldern. Sie sind für viele Menschen lebenswichtig und hätten nach Ablauf der Primärpatente durch kostengünstigere Biosimilars ergänzt werden können. Doch sie sind oft unbezahlbar und verursachen erhebliche Mehrkosten im Gesundheitswesen. In der Schweiz hat diese Praxis direkte Auswirkungen auf die Höhe der Versicherungsprämien. In ihrem jüngsten Arzneimittelreport schätzt die Krankenkasse Helsana das Einsparpotenzial durch einen häufigeren Einsatz bereits zugelassener Biosimilars allein zwischen 2020 und 2023 auf 1,2 Milliarden Franken.
Wenn die Schweiz aktiv gegen Monopolmissbräuche vorgehen würde, welche die Einführung neuer Biosimilars verzögern, würde sich dieses Einsparpotenzial vervielfachen. Die Behörden von Ländern wie der Schweiz, in denen grosse Pharmafirmen ansässig sind, müssen sich dringend gegen die missbräuchliche Verbreitung von Sekundärpatenten auf Medikamente stellen. Als Mitglied des Europäischen Patentübereinkommens könnte die Schweiz eine gründlichere Prüfung der Anmeldung von Patenten vorantreiben, um die Zahl ihrer Erteilungen zu begrenzen.
Der Druck, den die USA aktuell auf die Preise für patentierte Medikamente ausüben, könnte zu Enttäuschungen führen. Denn die Verhandlungen mit den Pharmakonzernen beziehen sich auf den offiziellen Preis – den fiktiven Listenpreis, der nur für internationale Vergleiche dient – und nicht auf den tatsächlichen Preis der Medikamente, den die Gesundheitssysteme und Patient*innen bezahlen. Schlimmer noch: Wenn die Pharma ihre Drohungen wahr macht, könnten die Arzneimittelpreise in der Schweiz und in Europa gar steigen. Unterdessen gehen der Missbrauch des Patentsystems und die Vorherrschaft der Pharmariesen über ganze Therapiebereiche ungebremst weiter.
Weitere Informationen
-
Folge 1: Entresto: Was seither geschah
Im ersten Teil dieser Serie im September 2024 haben wir aufgedeckt, mit welchen Strategien Novartis die Markteinführung von Generika für sein Medikament Entresto gegen Herzschwäche hinauszögerte. Durch Rechtsstreitigkeiten konnte der Basler Pharmariese wertvolle Zeit gewinnen, bevor Mitte 2025 Generika in den USA auf den Markt kamen, was einem zusätzlichen Umsatz von 4 Milliarden Dollar entspricht. In Europa wird kein Generikum von Entresto vermarktet, obwohl das Primärpatent 2023 auslief.
In Indien hingegen hat die Justiz im September 2025 das letzte Sekundärpatent von Novartis, das die Vermarktung von Generika gefährdete, aufgrund von mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit aufgehoben. Novartis kann allerdings noch Berufung einlegen.
Was ist ein Patent?
Das Patent ist ein Exklusivrecht, das Inhaber*innen einer Erfindung berechtigt, Dritten die Herstellung und Vermarktung dieser Erfindung in den Ländern, in denen es erteilt wurde, zu untersagen. Eine solche Erfindung muss drei Voraussetzungen erfüllen, um patentiert zu werden: Sie muss neu sein, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sein. Auch eine geringfügige Änderung eines Arzneimittels ohne therapeutischen Mehrwert kann patentiert werden.
Im Pharmabereich unterscheidet man zwei Arten von Patenten: Primärpatente beziehen sich auf den Wirkstoff des Medikaments, während Sekundärpatente dazu dienen, Änderungen an bereits patentierten Medikamenten zu schützen. In der Praxis verlängern letztere künstlich die Dauer der Marktexklusivität.
Man spricht von einem «Patentdschungel», wenn ein Medikament durch zahlreiche Patente geschützt ist. Werden diese über einen längeren Zeitraum verteilt eingereicht, kann die Dauer des Monopols für ein Produkt die im internationalen Recht vorgesehenen 20 Jahre bei weitem überschreiten.