Risikogeschäft für den Schweizer Rohstoffhandel Russische Getreideplünderungen in der Ukraine

Seit der Invasion der Ukraine im Februar 2022 kommt es in den besetzten Gebieten zu systematischen Getreideplünderungen durch die russische Besatzungsmacht. Gemäss humanitärem Völkerrecht sind solche Plünderungen ein Kriegsverbrechen. Ein Zuger Agrarhändler steht im Verdacht, im Oktober 2023 von einer russischen Firma eine Ladung ukrainischen Weizen gekauft zu haben. Recherchen von Public Eye zeigen, dass es sich dabei wohl nicht um einen Einzelfall handelt. Dies ist ein erneuter Beleg für das erhebliche politische Risiko, das mit dem Schweizer Rohstoffhandelsplatz einhergeht.

Die Ukraine gilt gemeinhin als «Kornkammer Europas». Vor der russischen Invasion war das Land gemäss Handelsdatenbanken für knapp 10% der globalen Weizenexporte, 13% des weltweit exportierten Mais sowie 40% des gehandelten Sonnenblumenöls verantwortlich. Dank seiner fruchtbaren schwarzen Erde ist vor allem der Südosten der Ukraine für den Getreideanbau zentral. Ein Teil dieser Region steht bereits seit 2014 unter russischer Besatzung.

Insbesondere seit Beginn des Kriegs 2022 und der Ausweitung der besetzten Gebiete unterhält die russische Regierung ein hochorganisiertes System zur Kontrolle der dortigen landwirtschaftlichen Produktion und des Exports von Agrargütern. Ein zentraler Teil davon besteht in der systematischen und teils gewaltsamen Entwendung von Getreide sowie der Aneignung von Infrastruktur. Gemäss dem humanitären Völkerrecht erfüllen solche Aneignungen durch eine Besatzungsmacht grundsätzlich den Tatbestand der Plünderung und sind deshalb verboten.

Massiver Getreidediebstahl

Bereits kurz nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 tauchten in internationalen Medien Berichte über den Diebstahl von Getreide durch die russische Besatzungsmacht auf. Bis anfangs Mai 2022 sollen bereits mehr als 500’000 Tonnen Getreide im Wert von mehr als 100 Millionen Dollar von russischen Akteuren entwendet worden sein. Bis Ende 2022 waren es laut Bloomberg fast 6 Millionen Tonnen Weizen, wodurch der Ukraine Einnahmen im Wert von mindestens 1 Milliarde US-Dollar entgangen sind. 

© Keystone/AP
Ein russischer Soldat auf einem Militärlastwagen mit dem Buchstaben Z, der zum Symbol des russischen Militärs geworden ist, hält im Juli 2022 Wache, während Landwirte im von Russland kontrollierten Süden der Ukraine Weizen ernten. Das Foto entstand an einem Medientermin des russischen Verteidigungsministeriums.

Neben der Aneignung von Ernten übernahmen die russischen Besatzer auch ganze Getreidelager und landwirtschaftliche Betriebe.

Zur Organisation dieser Plünderungen gründeten sie in den besetzten Gebieten eigene staatliche und kommunale Firmen - nach russischem Recht. 

Insbesondere in den beinahe vollständig besetzten Regionen Luhansk und Saporischschja übernahm der im Frühling 2022 neu gegründete Staatliche Getreidedienstleister GZO (Gozudarstvennij Zernovoj Operator) die Kontrolle über Strassen- und Schienennetze sowie Hafenanlagen, die für Getreideexporte erforderlich sind. Die dortige Infrastruktur ist mittlerweile komplett in russischer Hand, so dass von einer umfassenden Kontrolle des Getreidehandels in den besetzten Gebieten ausgegangen werden muss.

Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS berichtete im Juni 2023 ganz unverhohlen über die Geschäfte von GZO. Demnach hat das Unternehmen im 1. Quartal vergangenen Jahres 250'000 Tonnen Getreide aus der besetzten ukrainischen Region Saporischschja exportiert, vor allem in die Türkei und nach Ägypten. Für das gesamte Jahr 2023 beabsichtige man, über 1,5 Millionen Tonnen allein aus dieser Region auszuführen. Eine umfassende Analyse einer internationalen Anwaltskanzlei kommt denn auch zum Schluss, dass die GZO eine zentrale Rolle bei der Beschaffung, Lagerung und dem Transport von Getreide in den von Russland besetzten Gebieten spielt. Für diese Tätigkeit haben die USA, Grossbritannien sowie die Ukraine das Unternehmen sanktioniert

Geplündertes Getreide auf dem Weltmarkt

Das geplünderte Getreide landet über verschiedene Wege auf dem Weltmarkt. Es wird einerseits auf der Strasse oder Schiene – oft über den Verkehrsknotenpunkt Melitopol - an die Häfen von Sewastopol oder Feodosia auf der besetzten Halbinsel Krim und von dort nach Russland oder direkt in Drittländer transportiert. Andererseits wird es über den besetzten Hafen von Mariupol nach Sewastopol oder ins russische Rostow am Don geschafft. Zusätzlich haben die russischen Besatzer den Hafen in Skadovsk (Cherson) ausgebaut, um von dort die Ausfuhr von Getreide in russische Häfen zu verstärken.

© Public Eye / Fabian Lang
© Public Eye / Fabian Lang

Das Ausmass dieser systematischen Plünderungen lässt sich auch aus dem Exportvolumen der Krimhäfen ablesen: Gegenüber der Zeit vor der Invasion im Februar 2022 ist die dortige Getreideausfuhr laut Bloomberg um das 50-fache angestiegen. Bei unseren Recherchen sind wir auf Berichte von rund 50 Schifffahrten gestossen, mittels derer zwischen März 2022 und Oktober 2023 ukrainisches Getreide aus diesen besetzten Häfen abtransportiert wurde. 

In den nicht von Russland besetzten Gebieten der Ukraine hingegen versucht die russische Armee die landwirtschaftliche Produktion sowie die Exportinfrastruktur zu zerstören. Seit dem Rückzug Russlands aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative im Juli 2023 nahmen die russischen Bombardierungen nochmals deutlich an Heftigkeit und Häufigkeit zu. Russland zog die Sicherheitsgarantien für Schiffe im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres zurück und das russische Verteidigungsministerium erklärte am 19. Juli 2023, dass alle Schiffe, die ukrainische Häfen anliefen, als potenzielle Träger militärischer Ladung betrachtet würden. Es begann zudem gezielt mit Angriffen auf zwei der drei ukrainischen Häfen, die im Rahmen der Initiative als Exportkanäle genutzt wurden: Odesa und Tschornomorsk. Dabei wurden Hafeninfrastruktur und Getreideterminals bombardiert und geschätzte 60’000 Tonnen Getreide vernichtet.

© Sopa Images/Alamy
Ein Getreidesilo im Donbas wurde durch russischen Beschuss so sehr zerstört, dass nur noch Ruinen zu sehen sind.

Per Verschleierung wird ukrainisches Getreide russisch 

Um die wahre Herkunft des geplünderten Getreides zu verschleiern, werden verschiedene Methoden angewendet. Das Getreide wird beispielsweise nach Russland geschafft und in dessen Schwarzmeer-Häfen mit russischem Getreide vermischt. Eine andere Taktik besteht im so genannten Schiff-zu-Schiff-Transfer: Recherchen der BBC, der Associated Press und des Investigativ-Kollektivs Bellingcat zeigen, dass ukrainisches Getreide in Krimhäfen auf kleine russische Schiffe geladen und vor der russischen Küste, vor allem in der Meerenge von Kertsch, auf grosse Massengutfrachter umgeladen wurde.

Ein bevorzugter Ort dafür scheint ein bestimmter Ankerplatz ausserhalb des Hafens von Kavkaz zu sein. Dieser wird gemäss einem russischen Getreideexporteur bereits seit Jahren benutzt, um den Export von ukrainischem Getreide aus der Krim zu kaschieren. Dort wird das gestohlene Getreide auch mit Getreide aus Russland vermischt, um anschliessend als russisches Getreide verkauft zu werden. Die grösseren Schiffe transportieren diese Fracht dann insbesondere nach Ägypten, Libyen, Irak und Saudi-Arabien, nach Syrien oder in die Türkei.

Geisterschiffe ohne Funksignal

Eine beliebte Verschleierungsmethode ist zudem das Ausschalten des Funksystems AIS von Getreidefrachtern, die dann keine Positionsdaten mehr senden. Associated Press konnte mit Satellitenbildern nachweisen, dass während der ersten sechs Kriegsmonate drei Dutzend Schiffe Getreidetransporte von russisch-besetzten Gebieten in die Türkei, nach Syrien, den Libanon oder andere Länder durchführten, bei welchen das AIS zeitweise deaktiviert war.

© Olga Volodina/Alamy
Weil über das Getreideterminal Avlita in Sewastopol regelmässig geplündertes Getreide exportiert wird, steht die Betreiberin in der Ukraine, der EU und in der Schweiz auf der Sanktionsliste.

Bellingcat konnte ebenfalls mittels Satellitenbildern zeigen, dass in den ersten zwölf Monaten des russischen Angriffskriegs während mindestens 179 Tagen Schiffe mit ausgeschaltetem AIS am Avlita-Getreideterminal in Sewastopol angedockt hatten. Damit sollte der Verlad von gestohlenem Getreide vertuscht werden.

Die systematische Entwendung von Getreide folgt einem umfassenden russischen Plan. 

Der Ukraine sollen wichtige Exporteinnahmen entzogen werden und die für viele importabhängige Länder im Nahen und Mittleren Osten, in Teilen Afrikas sowie Asiens lebenswichtige Nahrungsquelle, soll zu einer Kriegswaffe werden. Das dreiteilige System der Plünderung umfasst 

  • die Kontrolle über Getreidelagerung, Strassen-, Schienen- und Hafeninfrastruktur, 
  • den Transport aus den besetzten Gebieten innerhalb der Ukraine und dann grenzüberschreitend nach Russland oder in andere Länder – wobei der Ursprung des Getreides möglichst vertuscht wird – sowie 
  • die Zerstörung ukrainischer Getreideinfrastruktur und Häfen.

Plünderung völkerrechtlich verboten

Es gibt einen klaren völkerrechtlichen Rahmen, der die gewaltsame Aneignung von Eigentum der Bevölkerung besetzter Gebiete durch eine Invasions- oder Eroberungsarmee als Plünderung einstuft und bis auf wenige Ausnahmen verbietet.

In internationalen bewaffneten Konflikten wie im Falle des Kriegs in der Ukraine kommt das humanitäre Völkerrecht zur Anwendung. Dieses stuft Plünderungen als Kriegsverbrechen ein. Auch im Römer Statut, dem Gründungsdokument des in Den Haag ansässigen Internationalen Strafgerichtshofs, wird Plünderung als Kriegsverbrechen in internationalen bewaffneten Konflikten aufgeführt. Bereits die Haager Landkriegsordnung von 1907 verbietet Plünderung unter allen Umständen, ebenso die Vierte Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Mit der Ratifizierung und Umsetzung des Römer Statuts durch die Schweiz wurde das Kriegsverbrechen der Plünderung auch ins Schweizerische Strafgesetzbuch aufgenommen.

© Imago / SNA
Russische Soldaten bewachen im Juli 2022 die Weizenernte in der teilweise von russischen Truppen kontrollierten Region Saporischschja.

Gemäss Einschätzung der Völkerrechtsexpertin Nina Burri ist die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in besetzten Gebieten mit wenigen, ganz spezifischen Ausnahmen, nicht zulässig. Besonders dann nicht, wenn einerseits dem «Eigentumsübergang» nicht zugestimmt worden ist oder dieser durch Zwang zustande gekommen oder mit Nachteilen für die Eigner verbunden ist. Und andererseits, wenn der Erlös daraus nicht ausschliesslich der örtlichen Bevölkerung zugutekommt. Dazu hält die Anwaltskanzlei Global Rights Compliance fest, dass Russland mit dem Erlös aus den Exporten des geplünderten ukrainischen Getreides seine eigenen Kriegsanstrengungen finanzieren will – es also nicht zugunsten der lokalen Bevölkerung einsetzt. 

Dabei ist laut Burri besonders zu beachten, dass «die Gründung von ‚legalen' Unternehmen eigens für die Durchführung dieser Transaktionen sowie der Erlass von Konzessionen oder Gesetzen der russischen Besatzungsmacht die Plünderung gemäss Rechtsprechung nicht legalisieren kann». Auch die Nutzung von Eisenbahn und Häfen zur Ausfuhr des unrechtmässig erworbenen Getreides kann gemäss Global Rights Compliance ein Verstoss gegen das Völkergewohnheitsrecht sein, also den von Staaten allgemein anerkannten Vorstellungen rechtlicher Normen, die unabhängig vom vertraglichen Völkerrecht existieren und gelten.

Auch indirekte Plünderung kann Kriegsverbrechen sein

Wichtig für die Beurteilung einer allfälligen Mitverantwortung von Unternehmen an Plünderungen ist die Tatsache, dass auch die indirekte Aneignung einen Plünderungstatbestand darstellen kann. So muss ein Unternehmen nicht an der ursprünglich unrechtmässigen Aneignung beteiligt gewesen sein, der Kauf geplünderter Güter kann unter Umständen für eine Tatbeteiligung genügen, wie das Standardwerk Corporate War Crimes: Prosecuting the Pillage of Natural Resources der Open Society Justice Initiative festhält. Darin sind über zwei Dutzend Gerichtsfälle aufgeführt, in denen in der Vergangenheit Unternehmen respektive deren Vertreter verurteilt wurden, weil sie während eines Krieges geplünderte Güter entgegengenommen haben.

In einem Meinungsbeitrag von Le Temps erklärte der Schweizer Bundesanwalt Stefan Blättler im Juli 2022, dass Straftaten weit entfernt von einem aktuellen Konflikt begangen werden und dennoch in direktem Zusammenhang mit diesem stehen können. 

Er wies dabei auf den Tatbestand der Plünderung hin und betonte, dass «die Vermarktung von geplünderten Rohstoffen ein Kriegsverbrechen darstellen könnte». 

Weiter meinte er, dass die Bundesanwaltschaft die hiesige Rechtsprechung vorantreiben wolle und diesbezüglich bereits Strafverfahren eröffnet wurden.

© Stringer/AFP
Im Juli 2023 wird im russischen Rostow am Don Getreide an Bord eines Frachtschiffs geladen.

Keine Sanktionen gegen Handel mit geplündertem Getreide

Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Europäische Union Sanktionen verhängt, welche die Schweiz übernommen hat. Diese beinhalten zwar ein Verbot des Imports von Waren aus den besetzten Gebieten, die kein ukrainisches Herkunftszertifikat aufweisen. Sie bieten jedoch in ihrer aktuellen Form kaum eine Handhabe gegen den Transithandel mit geplünderten Rohstoffen. Da die von Schweizer Agrarhändlern gehandelten Rohstoffe – ob ukrainisch, russisch oder anderer Herkunft – so gut wie nie Schweizer Boden berühren, sondern für Drittländer bestimmt sind, werden diese Geschäfte von der Sanktionsverordnung nicht erfasst.

Gemäss Völkerrechtsexpertin Burri sind Geschäftstätigkeiten im Umfeld eines bewaffneten Konflikts aber per se heikel beziehungsweise sie bedürfen einer besonderen unternehmerischen Sorgfalt. Deshalb ist beim Handel mit Getreide aus der Schwarzmeerregion spezielle Vorsicht geboten. 

Die involvierten Händler müssen auf die üblichen Warnsignale im Hinblick auf den Handel mit potenziell geplünderten Gütern achten. 

Dazu zählen die Zahlung eines Preises, der weit unter dem Marktwert liegt, eine heimliche Kaufabwicklung oder andere Verdachtsmomente wie etwa die Verwendung von sanktionierten Transportmitteln und Hafenterminals oder der Kauf bei neugegründeten Unternehmen.

Spezielles Augenmerk muss dabei den von einer Kriegspartei oder der Besatzungsmacht kontrollierten Geschäftspartnern gelten. Dies, um sicherzustellen, dass Unternehmen keine der Konfliktparteien direkt oder indirekt beliefern, sie finanzieren oder ihnen wesentliche Produkte oder Dienstleistungen über ihre Lieferketten bereitstellen.

Erhöhte Sorgfaltsprüfung unerlässlich

Gemäss den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte müssen Unternehmen grundsätzlich sicherstellen, dass ihre Tätigkeiten die Menschenrechte und Umwelt nicht verletzen. Dies gilt insbesondere bei Geschäften in Konfliktgebieten oder in Ländern, die mit Sanktionen belegt sind. Dafür gibt es spezifische Leitlinien wie den UNO-Guide «Heightened Human Rights Due Diligence for Business in Conflict-Affected Contexts». Darin heisst es beispielsweise, dass Unternehmen vermeiden müssen, die Ausbeutung von Ressourcen zu verursachen, dazu beizutragen oder damit direkt in Verbindung zu stehen, wenn diese «nicht zum Nutzen und ohne Zustimmung der örtlichen Bevölkerung» erfolgte, oder dadurch die Besatzungsmacht in dem besetzten Gebiet unterstützt wird.

Die umfangreiche Berichterstattung über die systematischen russischen Getreideplünderungen in der Ukraine müsste Agrarhändlern bekannt sein. Entsprechend müssten sie eine verstärkte Sorgfaltsprüfung durchführen. Tun sie dies nicht oder nur ungenügend, stellt dies ein erhebliches Risiko für den hiesigen Rohstoffhandelsplatz dar – einer zentralen Drehscheibe für den Handel mit Getreide aus der Schwarzmeerregion. 

© Nariman El-Mofty/Keystone/AP
Getreidefelder brennen im Juli 2022 in der Region Donezk in der Ostukraine.

Schweizer Schwarzmeerhandel

Der Getreidehandel aus der Schwarzmeerregion ist von international tätigen Handelshäusern geprägt, seit dem Krieg in der Ukraine aber auch zunehmend von russischen Unternehmen. Die global bedeutendsten Agrarhändler Archer Daniels Midland (ADM), Bunge, Cargill und Louis Dreyfus Company (LDC), genauso wie Cofco International, Olam oder die Export Trading Group (ETG) handeln mit Weizen, Mais, Sonnenblumenöl oder Dünger aus Russland und der Ukraine. Diese Geschäfte laufen meist über ihre Schweizer Niederlassungen. Hinzu kommen kleinere Händler wie die Genfer Sierentz oder die Zuger Vivalon, welche sich auf den Getreidehandel aus der Region spezialisiert hat.

Aber auch viele russische Händler betreiben Niederlassungen in der Schweiz. Aston, einer der grössten russischen Getreidehändler, hat deren zwei in Lausanne, darunter die für den internationalen Vertrieb zuständige Aston Agro-Industrial. Zudem betreibt Aston ein Joint Venture im Bereich der Maisverarbeitung mit dem weltweit zweitgrössten Agrarhändler ADM, seinerseits auch in der Waadt angesiedelt.

Ein anderer russischer Agrogigant, die Steppe Agroholding, hat ihren internationalen Handelsarm Steppe Trading ebenfalls in Lausanne. Der aktuelle Stand ihres Joint Ventures RZ Agro mit dem Schweizer Händler LDC, das in Russland auf eigenem Land Getreide anbaut, ist unklar. LDC wollte sich auf Anfrage nicht dazu äussern.

Die zur Hälfte in russischem Staatsbesitz befindliche United Grain Company OZK, welche in den Transport von ukrainischem Getreide in den besetzten Gebieten involviert sein soll, liess ihren internationalen Handel ebenfalls über die Schweiz laufen. Ihre in Lausanne registrierte Grainexport SA wurde gemäss einem Auditbericht von 2023 zwar inzwischen abgestossen und die entsprechende OZK-Webseite ist nur noch via Webarchiv zu finden. Grainexport ist jedoch weiterhin in Lausanne registriert und wird unter anderem von zwei russischen Staatsbürgern geführt.

Intransparenz als Geschäftsmodell

Der Schweizer Rohstoffplatz ist für das russische Getreidegeschäft also nach wie vor relevant. In welchem Umfang sich dieses bewegt und wie die Schweizer Händler darin mitmischen, ist jedoch nicht vollends klar. Einige Firmen haben im Frühling 2022 kurzerhand diverse Angaben zu ihren russischen Aktivitäten von ihren Webseiten gelöscht. Andere veröffentlichen von vornherein nichts, wie etwa die Genfer Sierentz, deren Internetauftritt aus einer einzigen Seite besteht.

© Efrem Lukatsky/Keystone/AP
Ein Kipplaster entlädt im August 2022 Getreide in einem Speicher in einem Dorf im Osten von Kyjiw (Kiew). Nach Kriegsbeginn waren Millionen von Tonnen Getreide in der Ukraine blockiert, weil kein Export möglich war.

Alle oben erwähnten Händler haben wir im Dezember 2023 beziehungsweise Januar 2024 kontaktiert. Acht der neun angefragten Händler wollten sich nicht zu Aktivitäten oder Wertanlagen in Russland äussern. Wie die meisten anderen, liess auch Sierentz unsere Anfrage unbeantwortet. Obwohl wir dem Rezeptionisten in deren Genfer Büro unsere Visitenkarte mit der Bitte um Kontaktaufnahme persönlich in die Hand drückten, reagierte das Unternehmen nicht. 

Zu Beginn des Krieges hatten einige Händler ihre Investitionen in Russland (vorübergehend) auf Eis gelegt. Ganz aus dem russischen Geschäft zurückziehen wollte sich aber niemand, denn Russland sei als grösster Weizenexporteur zu relevant für die globale Ernährungssicherheit. Der russische Staat versuchte derweil, seine Kontrolle über den eigenen Getreideexport zu vergrössern und erschwerte es ausländischen Unternehmen zunehmend, die für die Ausfuhr des eigenen Getreides erforderlichen Papiere zu erhalten. Zudem drohte die russische Regierung damit, ausländische Niederlassungen zu verstaatlichen, sollten die Unternehmen nicht bereit sein, diese (oft unter Wert) zu verkaufen.

Teilausstieg aus russischem Geschäft

So wurden globale Händler wie Cargill oder LDC gezwungen, sich schrittweise aus dem physischen Geschäft in Russland zurückzuziehen. Gemäss eigenen Angaben stellten sie die eigene Beschaffung von Getreide sowie die Lagerung oder das Verladen in Russland im Juli 2023 ein. Auch den Verkauf ihrer logistischen Anlagen vor Ort wollten sie prüfen. Ob dies inzwischen geschehen ist, lässt sich jedoch nicht sagen, denn auch diesbezüglich erhielten wir von keinem Händler eine Antwort.

Sicher ist: handeln mit russischem Getreide wollen die meisten weiterhin. 

So bestätigte Cargill gegenüber S&P Global, dass sie nach wie vor russisches Getreide kaufen und verkaufen wollen. Ein Sprecher der russischen Getreidehandelsvereinigung liess verlauten, Cargill habe sich entschieden, einen seiner Geschäftsbereiche einzustellen, aber nicht, den russischen Markt zu verlassen. Auch Exportdatenbanken legen nahe, dass Schweizer Händler weiterhin russische Agrarprodukte handeln.

Aufgrund der Systematik der Plünderungen von ukrainischem Getreide, das entweder als russisches Getreide ausgegeben oder mit diesem vermischt wird, geht mit russischen Handelsgeschäften ein erhöhtes Risiko einher. Durch ihren erzwungenen Rückzug aus Russland kontrollieren Schweizer Händler die Beschaffung, Lagerung und Verladung des Getreides nicht mehr selbst. Sie beziehen es vielmehr bei russischen Exporteuren, um es dann auf dem Weltmarkt weiterzuverkaufen.

© Mihalchevskiy/Imago/SNA
Blick auf die Krim-Brücke in der Meerenge von Kertsch: In Krimhäfen wird ukrainisches Getreide oft auf kleine russische Schiffe geladen und vor der Küste auf grosse russische Massengutfrachter umgeladen.

Verstärkte Sorgfaltsprüfung inexistent? 

Um sicherzustellen, dass sich in den eigenen Lieferketten keine geplünderten Rohstoffe befinden, ist eine verstärkte Sorgfaltsprüfung im Handel mit Russland deshalb zwingend. Kein einziger der neun befragten Händler verfügt jedoch über öffentlich zugängliche Informationen betreffend den Handel mit Akteuren in besetzten Gebieten oder benennt gar die sehr konkreten Risiken in Zusammenhang mit den Plünderungen in der Ukraine. Auch auf Anfrage diesbezüglich wollte kaum ein Händler konkrete Aussagen zu ihrer verstärkten Sorgfaltsprüfung machen.

LDC und Cofco International wiesen auf Nachfrage lediglich darauf hin, dass sie die jeweiligen Gesetze einhalten und die legitime Herkunft der Rohstoffe sicherstellen würden. Cofco International erklärte zudem, dass es zwar interne Reglemente gäbe, diese aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt seien.

Ein Zuger Rohstoffhändler scheut das Risiko nicht

Warum dieses Geschäft aktuell extrem heikel ist, zeigt exemplarisch ein Anfang 2024 erschienener Bericht der NZZ. Demnach hat just die Zuger Vivalon AG vergangenen Oktober 11'500 Tonnen Weizen von einer russischen Firma gekauft. Ebendiese Firma solle von der bereits oben erwähnten russischen GZO, welche im russischen Handelsregister im besetzten ukrainischen Melitopol registriert ist, mit dem Export beauftragt worden sein. Dabei habe die San Cosmas, ein von den USA sanktioniertes Schiff mit ausgeschaltetem Positionssignal, in Sewastopol auf der besetzten Krim die Fracht aufgenommen und in die Türkei transportiert. Dort wurde sie laut NZZ vom türkischen Ableger von Vivalon entgegengenommen. Vivalon gab damals gegenüber der NZZ an, die eigenen Untersuchungen zur Fracht seien zu einem «unbedenklichen Ergebnis» gekommen.

Dieses Handelsgeschäft hatte das ukrainische Freiwilligenkollektiv Myrotvorets bereits im September 2023 ausführlich dokumentiert und publiziert. Pikantes Detail: Das Schiff scheint im Hafen von Sewastopol beladen worden zu sein, genauer am Avlita Getreideterminal, dessen Betreiberin, die Avlita Stevedoring Company, in der Ukraine, der EU und folglich auch in der Schweiz auf der Sanktionsliste steht – genau weil über das Terminal regelmässig geplündertes Getreide exportiert wird.

© PlanetLabs / SkySatCollect
Das Satellitenbild zeigt das von den USA sanktionierte Schiff San Cosmas, wie es am 27. August 2023 mit ausgeschaltetem Positionssignal am Getreideterminal Avlita angedockt hat. Käuferin der Ladung mit mutmasslich geplündertem Weizen war der Zuger Rohstoffhändler Vivalon.

Das Geschäft mit russischem Weizen scheint für Vivalon zentral zu sein. Public Eye konnte russische Zolldaten einsehen, die zwischen Kriegsbeginn im Februar 2022 und April 2023 insgesamt knapp 40 Exporte von russischem Weizen mit Vivalon als Käuferin auflisten. Das ist nicht zwingend illegal, da der Handel mit russischem Getreide nicht sanktioniert ist – aber doch hochriskant. 

Denn was die NZZ nicht schrieb: Die Getreidelieferung der San Cosmas war wohl nicht die einzige, welche die Zuger Vivalon aus der Schwarzmeerregion gekauft hat und bei der das russische Staatsunternehmen GZO mit Sitz in der besetzten Ukraine involviert war. Über die Handelsdatenbank Globalwits konnte Public Eye weitere russische Zolldeklarationen einsehen, die zeigen, dass Vivalon bereits im September 2023 vier Getreidelieferungen von einem russischen Exporteur namens Samson bezogen hatte. Als Verfrachter («shipper) sowie als Zollanmelder («declarant») ist in den Zolldaten wieder GZO aufgeführt. Ende Oktober 2023 wurde noch ein weiteres solches Handelsgeschäft durchgeführt. Gesamtwert der fünf Ladungen: 4,8 Millionen US-Dollar.

Vivalon gibt auf Anfrage von Public Eye jedoch an, weder «Kontakt noch Transaktionen mit der unter US-Sanktionen stehenden GZO» zu haben. Zudem schreibt Vivalon, man habe als Reaktion auf den NZZ-Artikel umfassende, interne Abklärungen eingeleitet. Im Bericht dazu, welcher Public Eye von Vivalon erhalten hat, heisst es zu besagter Fracht: «(…) eigene Analysen, kombiniert mit den Informationen aus dem NZZ-Artikel, zeigen, wenn auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, dass die Möglichkeit besteht, dass es sich um gestohlene Güter handelt». 

Der Bericht habe zudem gezeigt, dass die robusten Compliance-Massnahmen in kritischen Bereichen angesichts der komplexen und unkonventionellen Risiken in Zusammenhang mit internationalem Getreidehandel ungenügend gewesen seien. Insbesondere weist Vivalon auf die Tatsache hin, die Sanktionsgeschichte des Schiffs übersehen zu haben und sich ausschliesslich auf die von anderen Akteuren unterbreiteten Unterlagen zu stützen, ohne die Informationen eigenständig zu überprüfen, seien als wichtige Compliance-Lücken identifiziert worden. Korrekturmassnahmen würden ergriffen, inklusive verstärkter Sorgfaltsprüfungsprozesse.

© Dmytro Smolyenko/Nurphoto/AFP
Ein Soldat bewacht im Juli 2022 ein brennendes Weizenfeld in der Region Saporischschja in der Südostukraine, das von russischen Truppen zerstört wurde, um die örtlichen Landwirte an der Ernte zu hindern.

Fazit und Forderungen

Die systematischen Plünderungen von Getreide in den besetzten, ukrainischen Gebieten sowie der fehlende Nachweis einer verstärkten Sorgfaltsprüfung seitens Schweizer Agrarhändlern verdeutlichen erneut das grosse politische Risiko, welches mit den Aktivitäten des Schweizer Rohstoffhandelsplatz einher geht. Um dieses zu minimieren, müssen Parlament und Bundesrat einige schon länger bekannte regulatorische Lücken schliessen. 

  1. Umfassende Sorgfaltspflichten und eine Aufsichtsbehörde
    Die grossen Schweizer Agrarhändler bleiben allesamt den Beweis schuldig, dass sie über eine verstärkte Sorgfaltsprüfung verfügen, um sicherzustellen, dass keine geplünderten Rohstoffe in ihre Lieferketten gelangen. Die geltenden gesetzlichen Vorschriften bezüglich menschenrechtlicher Sorgfaltsprüfung sind im internationalen Vergleich schwach und lückenhaft. Die Schweiz muss deshalb diesbezüglich eine umfassende Gesetzgebung einführen, wie die EU dies im Dezember 2023 beschlossen hat.

    Public Eye fordert zudem seit 10 Jahren einen spezifisch auf den Schweizer Rohstoffsektor ausgerichteten Rechtsrahmen und eine unabhängige Aufsichtsbehörde, die dessen Umsetzung kontrolliert. Eine solche Rohstoffmarktaufsicht müsste neben der Durchsetzung von Sorgfaltspflichten zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt auch das Inverkehrbringen von illegalen, also aus Verbrechen stammenden oder verbrecherisch erworbenen Rohstoffen verhindern und Verstösse sanktionieren.
     
  2. Ausweitung der Sanktionen
    Die Schweizer Sanktionsbestimmungen bieten aktuell keine Handhabe gegen den Handel mit geplünderten Rohstoffen aus der Ukraine, da sie Transithandelsgeschäfte von Schweizer Unternehmen nicht erfassen. Genau dieser Transithandel ist jedoch das Kerngeschäft der Schweizer Händler. Um zu verhindern, dass Schweizer Unternehmen – wissentlich oder nicht – mit gestohlenen Rohstoffen handeln, muss die Ukraine-Verordnung in diesem Punkt zwingend auf den Transithandel ausgeweitet werden.

    Zudem sollten konsequent all jene Unternehmen sowie Individuen sanktioniert werden, die nachweislich an der unrechtmässigen Aneignung von Rohstoffen und/oder Infrastruktur sowie der Ausfuhr von geplünderten Rohstoffen aus der Ukraine beteiligt waren oder sind. Angesichts ihrer geopolitischen Bedeutung als der wohl wichtigste Rohstoffhandelsplatz der Welt müsste die Schweiz diesbezüglich eigenständige Sanktionen erlassen oder sich zumindest bei der Europäischen Kommission dafür einsetzen, dass die EU ihre Sanktionen dahingehend ausweitet.
     
  3. Strafverfolgung bei Völkerrechtsverstössen
    Ausserdem muss der Handel mit geplünderten Rohstoffen für Unternehmen völkerrechtliche Konsequenzen haben. Denn kommerzielle Akteure, die an Transaktionen von geplünderten Gütern und Rohstoffen beteiligt sind, können als Mittäter einer Plünderung betrachtet werden, auch wenn sie an der ursprünglichen Aneignung im Konflikt- oder Kriegsgebiet nicht beteiligt waren. Da bei solchen Völkerrechtsverstössen das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit gilt, können auch die Strafverfolgungsbehörden in der Schweiz allfälligen Hinweisen nachgehen.

Dank:

Wir danken der Kyiv School of EconomicsMyrotvorets, Yörük Işık vom Bosphorus Observer sowie The Counter von SOMO für die Daten und Hintergrundinformationen zu dieser Recherche. Die inhaltliche Verantwortung liegt allein bei den Autor*innen.


* Wir verwenden für die Ortschaften in der Ukraine die Transliteration aus dem Ukrainischen anstatt der vielerorts üblichen russischen Transliteration (z.B. Odesa anstatt Odessa). 

Verantwortung der Schweiz Ukrainekrieg und Rohstoffhandel