Ukraine Wie die Schweiz die drohende Ernährungskrise instrumentalisiert

Die russische Invasion in der Ukraine lässt die Preise für Agrarrohstoffe und Lebensmittel explodieren. Besonders Länder, die von ukrainischen und russischen Exporten abhängig sind, droht eine Hungerkrise. Diese reale Bedrohung verwendet der Bundesrat nun als Argument, um Sanktionen gegen den Rohstoffhandel zu verhindern. Bis anhin hielt sich die Besorgnis der Schweiz um die globale Ernährungssicherheit in Grenzen. Dabei käme ihr als grösster Agrarhandelsplatz weltweit hier tatsächlich eine grosse Verantwortung zu. Ist ihr lukratives Kerngeschäft, der Handel mit russischem Öl und Gas bedroht, wird der Hunger zum Politikum – das ist mehr als zynisch.

Die Ukraine ist die Kornkammer Europas: 15% der Mais- und 10% der weltweiten Weizenexporte stammen von dort. Zudem stammen an die 50% des weltweit gehandelten Sonnenblumenöls aus der Ukraine. Auch Russland ist ein wichtiger Akteur im globalen Agrarhandel und mit einem Marktanteil von 20% grösster Weizenexporteur. Gemeinsam kommen die beiden Länder auf knapp einen Drittel der Weizenexporte. Diese Konzentration ist enorm – eine Seltenheit ist sie allerdings nicht. Auch bei anderen Rohstoffen konzentrieren sich Produktion und Export auf wenige Länder. Beim Mais haben die vier grössten Exporteure – die USA, Argentinien, Brasilien und die Ukraine – einen Marktanteil von knapp 80%. Eine derartige Konzentration kann bei Produktions- oder Exportausfällen drastische Konsequenzen haben. 

In den Getreidesilos der Ukraine lagert zwar noch die letztjährige Ernte, aber da der Krieg den Inlandtransport und den Export aus den Häfen lahmgelegt hat, sind die Lieferketten unterbrochen. Zudem hat das Land Exportverbote oder -restriktionen ausgesprochen, um die eigene Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Auch der Nachschub ist gefährdet. Im Frühling müsste das Sommergetreide ausgesät werden, es fehlt jedoch an Arbeitskräften. Unzählige Ukrainer*innen, weitgehend Männer, wurden über Nacht zu Kämpfern. Viele Felder sind zudem nicht bestellbar, da sie von russischen Panzern zerstört oder vermint wurden. Im Sommer stünde die Ernte des Winterweizens an – auch diese ist bedroht. 

Ernährungssicherheit auf Jahre hinaus gefährdet

Mit einer raschen Erholung der globalen Versorgungssicherheit bei Nahrungsmitteln ist auch bei sofortigem Kriegsende nicht zu rechnen, zumal auch die russischen Getreideexporte eingebrochen sind. Finanzinstitute wollen den Agrarhandel mit Russland nicht mehr finanzieren und Logistikfirmen sind aufgrund der sicherheitspolitischen Lage nicht willens, aus russischen Häfen zu exportieren. Zudem hat Russland selbst Exportbeschränkungen für Agrarprodukte erlassen, um wiederum seine Versorgungssicherheit zu erhalten. Auf die durchschnittlich 8 Milliarden US-Dollar pro Jahr aus dem Weizenexport wird Russland mit Blick auf die Selbstversorgung verzichten können. Die Exporte von Öl und Gas sind mit jährlich etwa 200 Milliarden US-Dollar hingegen unentbehrlich für die Kriegskasse.

Die faule Ausrede der Schweiz

Umso dringlicher wäre es jetzt, dass sich die internationale Staatengemeinschaft zu Sanktionen gegen den Rohstoffhandel durchringen kann. Doch die Schweiz hat daran als grösster Handelsplatz für russisches Öl und Gas wenig Interesse und schiebt die drohende globale Ernährungskrise als Ausrede vor. So sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin Mitte März dem Blick, bei Sanktionen gegen den Rohstoffhandel sei Vorsicht geboten, denn dem Nahen Osten drohe Hunger und Destabilisierung. In der Tat lassen die Verknappung der Getreideexporte und die gestiegenen Öl- und Gaspreise die Preise für Lebensmittel massiv in die Höhe steigen. Diese befinden sich aktuell auf dem höchsten Stand seit über zehn Jahren. Gleichzeitig schwanken die Preise pro Tag auf hohem Niveau, was die Spekulation antreibt. Der letzte massive Anstieg der Lebensmittelpreise war denn auch einer der Auslöser für den Arabischen Frühling sowie für die Bürgerkriege in Libyen und Syrien.

Dramatische Konsequenzen für die globale Ernährungssicherheit drohen auch jetzt – so weit hat der Wirtschaftsminister Recht. Ägypten bezieht über 85% seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Qatar, Benin oder Ruanda sind beim Weizenimport praktisch komplett von Russland, andere Länder wie der Libanon, Libyen, Tunesien oder Bangladesch zu grossen Teilen von der Ukraine abhängig. Die Lebensmittelpreise waren jedoch bereits vor der russischen Invasion in der Ukraine – und somit vor jeglichen Sanktionen – wegen schlechter Ernten und Lieferengpässen während der Coronakrise gestiegen. Und da hielt sich die Besorgnis der offiziellen Schweiz noch in Grenzen, war doch ihr Kerngeschäft – der Rohstoffhandel – nicht bedroht. Zudem dürfte der russische Getreidehandel aus oben genannten Gründen ohnehin bald zum Erliegen kommen – auch ohne Sanktionen gegen den Rohstoffsektor.

Globale Solidarität und Unterstützung gefordert

Die Ausrede der Schweiz können wir demnach nicht gelten lassen, denn die dramatischen Konsequenzen für importabhängige Länder sind bereits Realität. Als grösste Drehscheibe für den Handel mit russischem Öl und Gas steht die Schweiz im Gegenteil besonders in der Verantwortung.

Die Schweiz muss sich dafür einsetzen, dass die EU schnellstmöglich Sanktionen gegen den Handel mit Öl und Gas ausspricht – und diese dann unverzüglich übernehmen.

Parallel dazu muss sich die Schweiz zudem gemeinsam mit den sanktionierenden Ländern dafür einsetzen, dass die von Ernährungsunsicherheit besonders bedrohten Staaten bei ihrer Versorgung logistisch und finanziell unterstützt werden. Mitte März kündigte Uno-Generalsekretär António Guterres an, eine «Global Crisis Response Group on Food, Energy and Finance» ins Leben zu rufen. Die Schweiz sollte sich unverzüglich solidarisch zeigen und sich massgeblich daran beteiligen.

Das ist sie den betroffenen Ländern als weltgrösste Rohstoffdrehscheibe und als Zufluchtsort für russische Oligarchen und ihre Vermögen schuldig. Die vielbemühte «Globalität der Märkte» nützt den importabhängigen Ländern nämlich herzlich wenig, denn diese Sichtweise blendet Unterschiede in Bezug auf Verhandlungsmacht und Kaufkraft komplett aus. Während finanzstärkere Länder auf Getreide aus anderen Regionen ausweichen, können weniger kaufkräftige Länder die benötigten Mengen nicht so leicht ersetzen. Schon jetzt müssen in zahlreichen Ländern Getreidereserven aufgebraucht und Lebensmittel stark subventioniert werden. Ohne baldige Erholung der Preise ist die Ernährungssicherheit vieler Länder massiv bedroht.

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Weltgrösster Handelsplatz für Getreide aus der Schwarzmeerregion

Der Schweiz kommt hier als wichtigstem Handelsplatz für Getreide eine weitere, zentrale Rolle zu. Die weltweit grössten Agrarhändler Cargill, ADM, Bunge und Louis Dreyfus, die Schätzungen zufolge – genaue Zahlen gibt es nicht – zwischen 70 und 90% des weltweiten Getreidehandels kontrollieren, haben allesamt ihre Handelsabteilungen hierzulande. Vor allem der Handel mit Getreide aus der Schwarzmeerregion läuft über ihre Schweizer Büros, was unser Land zum grössten Handelshub von ukrainischem und russischem Getreide macht. Die Trader handeln jedoch nicht nur mit russischem Getreide, sie betreiben auch Verarbeitungsanlagen, Lager und Hafenterminals in Russland – teils gemeinsam mit russischen Firmen. Viterra, die ehemalige Agrarsparte von Glencore, an der letztere nach wie vor 49,9% hält, soll der Händler mit den grössten Vermögenswerten in Russland sein. Den Getreideterminal im Hafen von Taman teilt sie sich mit der unter Sanktionen stehenden russischen Bank VTB.

Intransparente und zögerliche Schweizer Händler

Wie hoch die Investitionen und Umsätze der Schweizer Agrarhändler in Russland tatsächlich sind, ist nicht bekannt. Cargill beispielsweise hatte gemäss der Nachrichtenagentur Reuters Details zum Geschäft in Russland und der Ukraine Mitte März von der Webseite entfernt. Auch eine offizielle Positionierung der Händler zur russischen Invasion in der Ukraine suchte man lange vergeblich. Die Relevanz des russischen Marktes für ihr Geschäft und der fehlende Druck der Öffentlichkeit auf die eher im Hintergrund agierenden Trader dürften der Grund für ihre zögerliche Haltung sein. Erst Mitte März hatten sich diese zu einer teilweisen Einstellung ihrer Geschäftstätigkeiten in Russland durchgerungen und dies wohl eher aufgrund der sehr schwierigen Bedingungen als aus freien Stücken.

Auch die Händler schieben, genau wie die Schweiz, die Hungerkrise als Grund für ihre Untätigkeit vor.

So liess Cargill via Reuters verlauten, «Nahrung ist ein Menschenrecht und sollte nie als Waffe verwendet werden». Dem kann im Grundsatz eigentlich nur zugestimmt werden. Wenn der Absender dieser Botschaft der weltgrösste Agrarhändler ist, der während der Coronapandemie den grössten Profit in der 156-jährigen Firmengeschichte eingefahren hat, während die Zahl der Hungernden gleichzeitig um 100 Millionen zugenommen hat, muss die gute Absicht hinter solchen Aussagen allerdings in Frage gestellt werden. Da muten auch die von Cargill in Aussicht gestellten 5 Millionen US-Dollar zynisch an, die der Händler unter anderem an das World Food Programme spenden will, das wiederum 70% des verteilten Getreides aus der Ukraine bezieht. Gemessen an den knapp 5 Milliarden US-Dollar Reingewinn im Jahr 2021 ist das ein Klacks.

Angesichts der zentralen Position der Schweizer Trader in unserem globalen Ernährungssystem sind ihr Zögern und Schweigen unhaltbar. Die Agrarhändler hätten schon längst Transparenz darüber schaffen müssen, inwiefern sie noch in Russland und mit russischen Unternehmen operieren und wie sie sich zur russischen Invasion positionieren. Bei Geschäftstätigkeiten in und mit Ländern, die sich in kriegerischen Auseinandersetzungen befinden, braucht es zudem zwingend eine verstärkte Sorgfaltsprüfung. Die Unternehmen müssen laufend in einem klaren und transparenten Prozess die menschenrechtlichen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeiten analysieren. In den meisten Fällen dürfte dies im aktuellen Konflikt zu einer drastischen Reduktion ihrer Geschäftstätigkeiten oder einem Rückzug führen. Diesbezüglich gilt es sicherzustellen, dass sie dabei die Arbeitsrechte ihrer Angestellten nicht verletzen. Gleichzeitig müssen sie verhindern, dem kriegstreibenden Regime wirtschaftlich und innenpolitisch in die Hände zu spielen und die Wirkung der Sanktionen zu unterlaufen.

Verantwortung der Schweiz Ukrainekrieg und Rohstoffhandel