10 Jahre nach der Tragödie von Rana Plaza hat sich in der Textilindustrie wenig getan

Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch jährt sich am 24. April 2023 zum zehnten Mal. Das tragische Ereignis hat der Welt vor Augen geführt, unter welch skandalösen Umständen die Kleider produziert werden, die wir alle tragen. Seither hat sich Einiges verbessert, doch die Bekleidungsindustrie ist nach wie vor geprägt vom globalen Wettlauf nach unten: immer mehr, immer billiger. Um diesen Irrsinn zu stoppen, braucht es politische Leitplanken – auch in der Schweiz.

Wo vor zehn Jahren 1138 Menschen ums Leben kamen, ist längst der Alltag eingekehrt: Strassenküchen bieten Bananen und andere Lebensmittel an, auf dem Gelände der eingestürzten Fabrik Rana Plaza in Savar nahe der bangladeschischen Hauptstadt Dhaka wuchert das Grün. Die gewaltige Menge Schutt und Kleider, die von der Katastrophe übrigblieb, haben die Behörden längst in einer riesigen offenen Deponie entsorgt. Doch «aus den Augen, aus dem Sinn», das funktioniert hier nicht: Rana Plaza hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Menschen in Savar eingebrannt. Entsorgt wurde der Schutt, aber die Sorgen, die verschwanden nicht, im Gegenteil.

Rund 2000 verletzte Arbeiter*innen überlebten die Katastrophe vom 24. April 2013 zwar. Doch sie leiden noch heute an den gesundheitlichen und sozialen Folgen des Einsturzes, ebenso wie die Familien der 1138 Opfer, die in den Trümmern starben, keinen Tag verbringen, ohne an die Tragödie zu denken.

Der Bangladesh Accord – ein Meilenstein

Das bislang düsterste Kapitel in der Geschichte der Bekleidungsindustrie führte im Mai 2013 zum Abkommen über Brand- und Gebäudesicherheit, dem «Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh». Die von Public Eye mitgetragene Clean Clothes Campaign (CCC) unterzeichnete das Abkommen als Zeugin und nahm in der Umsetzung eine kritische Beobachterinnenrolle ein.

Der Accord hat die Sicherheit in den Textilfabriken Bangladeschs wesentlich verbessert. 2018 wurde das Abkommen um weitere drei Jahre verlängert, Ende Mai 2021 lief es aus. Dank zähem Kampf von internationalen Gewerkschaftsverbänden sowie Unterzeichnerorganisationen wie der Clean Clothes Campaign ist seit dem 1. September 2021 ein neues, internationales Abkommen in Kraft.

© Taslima Akhter
Laut des bangladeschischen Innenministers waren drei der acht Etagen illegal errichtet worden, eine neunte befand sich im Bau.

Die Entschädigungen reichen nirgends hin

Unmittelbar nach Bekanntwerden des Einsturzes wurde von der Clean Clothes Campaign und weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft die Kampagne für eine vollständige und gerechte Entschädigung der vom Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes betroffenen Familien initiiert. Die Kampagne forderte Modeunternehmen und Einzelhändler immer wieder dazu auf, über wohltätige Spenden hinauszugehen und konkrete Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Familien der Verstorbenen durch den Einsturz nicht in noch grössere finanzielle Notlage gedrängt würden und dass die Tausenden von Verletzten die notwendige medizinische Versorgung erhalten.

Als Ergebnis dieser Kampagne und auf Druck von Regierungen und internationalen Organisationen kam es zu Verhandlungen, und das Rana-Plaza-Entschädigungs-Abkommen wurde geschlossen.

Die Überlebenden haben jedoch nur geringe Beträge erhalten, und das auch für die lokalen Verhältnisse. Die Kosten von medizinischen Behandlungen wurden und werden zudem nicht vollständig übernommen.

Deshalb kämpfen die in ihrer grossen Mehrheit weiblichen Überlebenden noch immer mit den Spätfolgen der Katastrophe (siehe Porträts und Video weiter unten). Die Gesamtsumme, die Überlebende und Angehörige von Toten in den letzten zehn Jahren erhalten haben, beträgt laut der lokalen Zeitung «Dhaka Tribune» weniger als 40 Millionen US-Dollar.  

Ein Grund für die unzureichenden Entschädigungszahlungen ist, dass das internationale Übereinkommen, auf das sich das Verfahren stützt, nur die Entschädigung für Einkommensverluste abdeckt, nicht jedoch für Schmerzensgeld. Ausserdem basierte die Berechnung auf dem Armutslohnniveau der Bekleidungsindustrie. Es ist daher von grösster Bedeutung, für existenzsichernde Löhne zu kämpfen.

© Taslima Akhter
Obwohl die Arbeiter*innen schon vor dem Einsturz Risse in den Mauern gemeldet hatten, wurden sie angewiesen, weiter zu arbeiten. Als das Gebäude am 24. April 2013 schliesslich in sich zusammenbrach, kam für viele jede Hilfe zu spät.

Skrupellose Fabrikbosse noch immer nicht verurteilt

Gemäss der Menschenrechtsorganisation Business & Human Rights Resource Centre demonstrierten die Überlebenden des Rana-Plaza-Gebäudeeinsturzes im April 2022 in Savar, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, darunter eine lebenslange Entschädigung für die verletzten Arbeiter*innen. Weiter fordern sie die Rehabilitierung der Arbeiter*innen, lebenslange Behandlungsmöglichkeiten, die Sicherstellung einer maximalen Bestrafung und die Beschlagnahmung des Eigentums all jener, die für den Vorfall verantwortlich sind, sowie die Ausrufung des 24. April als «Tag der Arbeitermorde».

Was für die Opfer von Rana Plaza besonders schlimm ist: Diejenigen, die des Mordes angeklagt wurden, weil sie die Arbeiter*innen in das Gebäude zurückgedrängt hatten, wurden zwar angeklagt, jedoch noch nicht verurteilt. Einen Tag vor dem Einsturz von Rana Plaza hatten Behörden zur Schliessung des Gebäudes aufgefordert. Die im Gebäude eingemieteten Geschäfte und eine Bank waren der Aufforderung unmittelbar nachgekommen, die Besitzer*innen der Textilfabriken im oberen Teil des Gebäudes hingegen haben die Textilarbeiter*innen unter Druck gesetzt, weiter zur Arbeit zu gehen. Wenige Stunden später brach das Gebäude zusammen.

Gespräche vor Ort

Wie geht es Arbeiter*innen, die den Fabrikeinsturz überlebt haben, 10 Jahre danach? Welche Botschaften haben sie und Aktivist*innen vor Ort an Modemarken in Europa und der Schweiz?

Weitere Informationen

  • Nilufa

    © Rainbow Collective & Cinema Gang

    «Rana Plaza hat mein Leben und meine Familie zerstört»

    Die Textilarbeiterin Nilufa hatte ein Leben mit Perspektive. Rana Plaza machte es ihr zur Hölle. Sie findet, dass die Modemarken, die im Rana Plaza Kleider nähen liessen, dafür sorgen müssten, dass es den verletzten Arbeiter*innen gut geht und sie gesund sind. Und sie fordert sichere Arbeitsplätze in den Fabriken.

    «Ich habe über sechs Jahre im Rana-Plaza-Gebäude gearbeitet. Damals ging es uns gut. Meine Mutter kümmerte sich um meinen Sohn, mein Mann steuerte etwas zum Haushaltseinkommen bei, aber der grösste Teil kam von mir. Ich finanzierte sogar zwei Haushalte, unseren und den meiner Mutter. Und ich bezahlte die Ausbildung meines Sohnes.

    Rana Plaza veränderte alles. Viele Arbeiter*innen verloren ihr Leben, und wer überlebte, kämpft mit seinem Schicksal. Schauen Sie mich an: Ich verlor ein Bein. Anderen fehlt eine Hand, ein Fuss – unzählige sind traumatisiert. Ein paar Jahre später verlor ich auch meinen Mann: Er war so lange glücklich, wie ich das Geld nach Hause brachte. Nachdem ich keine Arbeit mehr hatte, verliess er mich. Damit verlor ich den Respekt meines Sohnes; er ist 16 und will mich nicht mehr besuchen. Ich kann auch nicht mehr für seine Ausbildung aufkommen. Jetzt habe ich Angst; ich schäme mich, mit ihm zu sprechen.

    Auch meine Familie hat den Respekt vor mir verloren, seit mein Mann weg ist. Rana Plaza hat mein Leben und meine Familie zerstört. Das tut weh. Es gibt Leute, die sagen, ich wäre besser gestorben. Obwohl wir beim Einsturz nicht unser Leben hergeben mussten, fühlen wir Überlebenden uns manchmal tatsächlich wie tot. So wie jetzt möchte ich jedenfalls nicht weiterleben.

    Viele Leute hier meinen, die erhaltenen Entschädigungen hätten uns reich gemacht. Das stimmt nicht. Ich habe im Alter von 18 bis 25 Jahren dort gearbeitet und umgerechnet bloss 423 USDollar erhalten. Dabei habe ich sogar mein Bein verloren. Deshalb finde ich auch nirgends Arbeit, obschon ich intensiv danach suche: Wer Arbeit zu vergeben hat, sieht das fehlende Bein und winkt sofort ab.

    Ich fordere die Regierung auf, uns mehr Entschädigung zu bezahlen. Das ist sie uns schuldig. Ich möchte, dass alle innerhalb und ausserhalb des Landes mithelfen, Druck auf unsere Regierung auszuüben.

    Vor einiger Zeit lieh ich mir umgerechnet 18 US-Dollar und eröffnete einen kleinen Verkaufsstand mit Zigaretten. Aber ich werde von der Polizei schikaniert und muss immer wieder umziehen. Zudem geht es mir oft so schlecht, dass ich den Stand gar nicht öffnen kann.

    Seit der Katastrophe sind jetzt zehn Jahre vergangen, und die Opfer erhalten immer noch nicht die medizinische Behandlung, die sie brauchen. Ich habe zwölf Arbeitskolleg*innen, die seit dem Einsturz gestorben sind, weil sie nicht angemessen behandelt wurden.

    Wegen des Beins war ich während sieben Jahren in über 20 Spitälern, insgesamt wurde ich elfmal operiert. Die letzte Behandlung kostete 4203 USDollar. Bei einigen Behandlungen weiss ich nicht, wer sie bezahlt hat, die Regierung oder eine Hilfsorganisation. Aber seit einiger Zeit muss ich selbst dafür aufkommen. Jetzt steht eine Operation an, die 7000 US-Dollar kostet. Wer soll das bezahlen? Allen, die beim Einsturz von Rana Plaza verletzt wurden, sollten die Arztrechnungen bezahlt werden.

    Was uns Arbeiter*innen im Rana Plaza passiert ist, sollte niemandem mehr widerfahren. Ich will, dass sich die Sicherheitsstandards ändern und die Textilfabriken ein sicherer Arbeitsplatz sind. Die Marken, die im Rana Plaza produzierten, müssten dafür sorgen, dass es den verletzten Arbeiter*innen gut geht und sie gesund werden. Nur dank uns konnten sie grosse Gewinne machen. Sie müssen jetzt Verantwortung übernehmen und uns stärker unterstützen.

    Leider haben sich nicht alle Marken an den Entschädigungen beteiligt. Hätten sie es getan, müssten wir nicht die Regierung um Hilfe bitten.

    Ich habe mir schon lange gewünscht, dass ich mal mit einem Minister sprechen könnte. Dann würde ich ihm einiges über die Branche erzählen. Ich verstehe nicht, wie die Behörden unser Leid nicht sehen können. Alles ist online, auf Facebook. Wir leiden, aber sie sind blind.

    An den Ort, wo das Rana Plaza stand, kann ich nicht mehr. Dort höre ich noch immer die Schreie der Arbeiter*innen, die sich beim Einsturz in Sicherheit bringen wollten.»


    Die Aussagen, die diesen Porträts von Betroffenen und dem Interview mit Kalpona Akter, Geschäftsleiterin des Bangladesh Center for Workers Solidarity (BCWS), zugrunde liegen, wurden von Rainbow Collective & Cinema Gang in einem vor Ort gedrehten Video aufgenommen.

  • Shila

    © Rainbow Collective & Cinema Gang

    «Niemand versteht das Leid, das wir durchmachen»

    Die Textilarbeiterin Shila möchte nicht, dass irgendjemand ein Leben führen muss, wie es die Opfer von Rana Plaza heute haben. Weil sie nicht mehr arbeiten kann, erhält sie Lebensmittel von Nachbar*innen. Die Modemarken, die im Rana Plaza produzieren liessen, fordert sie dazu auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen.

    «Seit Rana Plaza hat sich mein Leben immer weiter verschlechtert. Wir Opfer sind ständig am Kämpfen für unsere Rechte und ums Überleben. Im Moment habe ich das Gefühl, mich einfach umbringen zu wollen. Ich habe einen Tumor im Magen, zudem Diabetes.

    Mein Rückenmark ist verletzt, ich habe einen Blasenkatheter, den ich tragen muss. Deshalb kann ich nicht arbeiten, ich bin nicht vermittelbar.

    In den letzten zehn Jahren wurden wir Rana-Plaza-Opfer als Produkt benutzt; die Medien schlachteten unsere Not aus. Aber die Leute sehen nicht, dass wir Menschen sind, die leiden. Niemand versteht das. Die Menschen können nicht sehen, wie sehr wir innerlich leiden, nur wir können es sagen.

    Weil ich nicht mehr arbeiten kann, erhalte ich Lebensmittel von meinen Nachbar*innen. Ich habe einen Sohn, um den ich mich nicht kümmern kann. Er ist bei meiner Schwester. Er war ein Musterschüler, der viele Preise gewonnen hat, aber er musste seine Ausbildung abbrechen, weil ich sie mir nicht mehr leisten kann. Für eine Mutter fühlt sich das ganz schlimm an, es ist kaum auszuhalten.

    Ich habe keine vollständige und angemessene Entschädigung erhalten; sie wurde gekürzt. Umgerechnet waren es lediglich 336 US-Dollar. Wir Opfer wurden mit dieser Entschädigung über den Tisch gezogen.

    Wenn die Gelder, die die Regierung erhalten hatte, gerecht verteilt worden wären, müsste mein Sohn nicht bei meiner Schwester leben. Und er hätte seine Ausbildung machen können.

    Weil es mir an Geld fehlt, kann ich nicht einmal die Operationen bekommen, die mein Körper braucht. Was für ein Leben ist das?

    Zurzeit bezahlt eine Stiftung einen Teil unserer Behandlungen. Aber sie geben uns nicht die Medikamente, die wir brauchen. Sie schicken uns immer wieder in verschiedene Spitäler, und dort müssen wir selbst bezahlen. Unlängst musste ich einen Scan für 121 US-Dollar machen lassen. Ich musste die örtliche Moschee bitten, das zu bezahlen.

    Auf dem Papier sollte der Treuhandfonds für unsere Behandlung aufkommen, aber in Wirklichkeit können wir die Korruption sehen, die hier stattfindet.

    Aufgrund dessen, was wir durchgemacht haben und wie es sich auf unser Leben ausgewirkt hat, brauchen wir bis zu unserem Tod Unterstützung. Dafür sollte es einen Fonds geben, und wenn dieser nur 46 US-Dollar im Monat zahlen würde.

    Wir verlangen nicht viel, wir wollen nur ein normales Leben führen können. Alle haben von unserer Arbeit profitiert. Jetzt sollten sie ihre Verantwortung wahrnehmen.

    Und unsere Kinder brauchen Unterstützung für ihre Ausbildung. Wenn wir wie früher arbeiten könnten, hätten wir sie unterstützt. Jetzt können wir das nicht. Wäre ich gesund, würde ich so arbeiten wie früher, ich hatte eine Senior-Anstellung in der Fabrik. Dann könnte ich ein gutes Gehalt verdienen, aber stattdessen muss ich die Leute anbetteln.

    Wenn ich den Leuten von meinen Verletzungen erzähle, sagen sie, ich würde schauspielern, zudem sei ich dank der Entschädigung doch Millionärin. Niemand versteht das Leid, das wir durchmachen. Wie viele Tage können wir noch so leben? Ich möchte wirklich nicht, dass irgendjemand das Leben führen muss, das wir Opfer haben.

    Wir wollen, dass die Käufer, für die wir Kleidung hergestellt haben, sich um uns und unsere Familien kümmern. Wir wollen, dass sie die Ausbildung unserer Kinder unterstützen und dass sie uns in die Lage versetzen, uns selbst zu ernähren. Das ist alles, was wir wollen.»


    Die Aussagen, die diesen Porträts von Betroffenen und dem Interview mit Kalpona Akter, Geschäftsleiterin des Bangladesh Center for Workers Solidarity (BCWS), zugrunde liegen, wurden von Rainbow Collective & Cinema Gang in einem vor Ort gedrehten Video aufgenommen.

  • Kalpona Akter

    © Rainbow Collective & Cinema Gang

    «Die Arbeiter*innen verdienen immer noch Armutslöhne»

    Die Opfer von Rana Plaza sind nicht angemessen entschädigt worden, kritisiert Kalpona Akter, Geschäftsleiterin des Bangladesh Center for Workers Solidarity (BCWS). Immerhin habe sich die Arbeitssicherheit seither verbessert. Die Modemarken fordert sie dazu auf, das internationale Abkommen zu unterzeichnen und sicherzustellen, dass ihre Arbeiter*innen nicht Armuts-, sondern Existenzlöhne erhalten.

    Haben die Modemarken, die in Rana Plaza produzieren liessen, nach der Katastrophe ihre Verantwortung wahrgenommen?

    Nicht wirklich. Erst nach unserem starken Druck haben einige von ihnen den Bangladesh Accord über Brandschutz und Gebäudesicherheit unterzeichnet. Einige haben auch einfach einen bestimmten Betrag in den Entschädigungsfonds einbezahlt. Aber keine Modemarke ist hingestanden und hat von sich aus gesagt: «Ich liess dort produzieren und übernehme Verantwortung dafür.»

    Waren die Entschädigungen ausreichend, um den Opfern oder ihren Angehörigen ein würdiges Leben zu ermöglichen?

    In Bangladesch sieht das Gesetz für die Arbeiter*innen und ihre Familien keine angemessenen Entschädigungen vor. Deshalb mussten wir eine Kampagne führen. Die Entschädigung wurde gemäss der ILO-Konvention 121 berechnet, doch leider wurde als Grundlage für die Entschädigung trotz Kampagne nur der Einkommensverlust genommen, ein Schmerzensgeld stand nicht zur Diskussion. Daraus resultierte für die Familien kein angemessener Betrag.

    Von welchen Summen sprechen wir da?

    Es ist schwierig, das Leben eines Menschen mit Geld aufzuwiegen. Aber die Opfer müssen ein würdiges Leben führen können, und das können sie mit dem erhaltenen Geld nun mal nicht. Sie können damit nicht einmal über Jahre ihr Essen bezahlen, geschweige denn die Erziehung ihrer Kinder oder anderes finanzieren.

    Unser Kampagnenziel war, 71 Millionen US-Dollar für die Opfer zu erhalten – vor allem für Rana Plaza, aber auch für das Unglück in der Tazreen Fabrik. Am Ende erhielten wir nur 30 Mio. US-Dollar. 41 Millionen fehlten, und das war das Schmerzensgeld, das wir gefordert hatten. Hätten wir dies gekriegt, hätten die Opfer ein würdiges Leben führen können. Aber was nun ausbezahlt wurde, ist in keiner Weise angemessen.

    Was heisst das im Einzelfall?

    Wenn Arbeiter*innen sterben, erhalten ihre Familien lediglich 200’000 Taka, das sind etwa 2000 US-Dollar. Letztes Jahr wurde ein System der Arbeitsversicherung für fünf Jahre als Pilot eingeführt, welches wir als Gesetz verankert haben wollen. Das sollte der Weg sein, um aktuell und bei einem zukünftigen Unfall angemessene Entschädigungen einfordern zu können. Auch wenn ich natürlich hoffe, dass es keine Unfälle mehr geben wird.

    Erhalten jene, die schwer verletzt wurden, die nötige medizinische Hilfe?

    Nun ist etwas Geld übrig, und damit wurde ein spezieller Fonds eröffnet. Aber das reicht nicht, um medizinische Behandlungen zu für jene zu bezahlen, die eine solche benötigen.

    Zudem haben einige Arbeiter*innen Folgeschäden wie etwa Kopfschmerzen, aber sie wissen nicht, dass dies davon kommt, dass sie als Folge des Unfalls ein Problem mit ihrer Wirbelsäule haben. Viele leiden auch heute, zehn Jahre später, noch unter den Folgen der Katastrophe. Und sie wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen.

    Fühlen sich die Opfer in ihrer misslichen Lage denn zumindest ernstgenommen?

    Viele Arbeiter*innen haben auch das Gefühl, man würde sie als Produkt behandeln. Sie sagen, die Medien interessierten sich nur für sie, wenn gerade der Jahrestag von Rana Plaza bevorsteht, um eindrückliche Bilder und Aussagen zu erhalten, um ihre Gefühle zu verkaufen. Ich kann das nachvollziehen, denn wenn sie befragt werden, erleben sie nochmals den Schmerz, den sie damals nach dem Einsturz erlebten, weil sie jemanden verloren hatten oder selbst in den Trümmern verletzt wurden. Wir müssen deshalb vorsichtig sein, wenn wir mit ihnen sprechen. Und wir müssen auch erklären, weshalb wir ihre Stimme brauchen, um gehört zu werden und Verbesserungen für alle Arbeiter*innen zu erreichen.

    Haben sich die Arbeitsbedingungen in Bangladesch durch Rana Plaza verbessert?

    Es hat sich einiges verbessert, aber die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen sind dieselben geblieben. Verbessert hat sich die Sicherheit, und das sogar markant. Die Sicherheit am Arbeitsplatz ist in der gesamten Textilindustrie heute markant besser als vor zehn Jahren. Da hat der Bangladesh Accord sehr viel bewirkt. Beim Brandschutz werden sowohl die bauliche als auch die elektrische Infrastruktur überprüft. Von vielleicht 150'000 Sicherheitsrisiken wurden rund 93'000 angegangen. Heute können wir sagen, dass über 2 Millionen Arbeiter*innen in sicheren Fabriken arbeiten, 1600 Fabriken sind sicher. Aber insgesamt gibt es in Bangladesch über 3000 Fabriken. Es gibt also noch viel zu tun.

    Machen da alle Modemarken mit?

    Nein, es gibt viele schamlose Modemarken, die das Abkommen nicht unterzeichneten. Dazu gehören Levi’s, Gap, JC Penney, Fruit of the Loom, Canadian Tire, aber auch eine Ikea, die ja auch Textilien anbietet.

    Insgesamt gibt es ein Dutzend Marken, die wir an den Pranger stellen, weil sie das Abkommen nicht unterzeichnen und ihren Arbeiter*innen keinen sicheren Arbeitsplatz geben wollen.

    Wie haben sich die Löhne seit Rana Plaza entwickelt?

    Die Arbeiter*innen verdienen immer noch Armutslöhne. Der Minimallohn, den wir in der Textilindustrie haben, beträgt 8000 Taka, umgerechnet 76 US-Dollar im Monat. Das reicht nicht mal für eine Person zum Überleben, geschweige denn mit Kindern. Deshalb fordern wir einen Existenzlohn. Wir fordern die Modemarken dazu auf, einen solchen zu gewährleisten und ihre Verantwortung wahrzunehmen.

    Wie steht es um die Vereinigungsfreiheit?

    Auf dem Papier haben wir diese, genauso wie das Recht, Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Aber wenn sich Arbeiter*innen organisieren, werden sie bedroht und geschlagen. Und manchmal werden sie dazu gezwungen, ihr Dorf und ihre Gemeinschaft zu verlassen.

    Sobald Arbeiter*innen ihre Stimme erheben, wird diese Stimme durch den Staat und die Fabrikbosse kriminalisiert. Diese zwei Gruppen sind eng untereinander verstrickt und bilden gemeinsam die Macht, und die können sie gezielt gegen die Arbeiter*innen einsetzen. Seit Rana Plaza gibt es zwar mehr Gewerkschaften, aber diese wurden insgesamt nicht stärker. Unter dem Strich haben die Arbeiter*innen deshalb kein Recht auf eine freie Meinungsäusserung.

    Wurden die Fabrikbosse, die für die Katastrophe verantwortlich waren, verurteilt?

    Wir warten immer noch darauf, dass die Justiz ihre Arbeit macht und Urteile fällt. Ich verstehe nicht, weshalb es so lange dauert. Das muss mit der politischen Macht zu tun haben. Denn es ist ja alles dokumentiert, jeder TV-Sender hat Bilder von den Rissen im Gebäude gezeigt.

    Alle diese Leute sind verantwortlich für das Verbrechen, das an den Opfern begangen wurde. Sie hätten den Tod der Arbeiter*innen verhindern können, haben es aber nicht getan. Das ist bewiesen. Deshalb verstehe ich nicht, weshalb es zehn Jahre braucht, um diese Leute zu verurteilen. Wir warten wirklich auf Gerechtigkeit. Bisher wurde kein einziger verurteilt.

    Könnte es ein zweites Rana Plaza geben?

    Wissen Sie, als Gewerkschafterin bin ich eine optimistische Person. Daran zu denken, dass ein neunstöckiges Gebäude einstürzt und mehr als 1000 Menschen deswegen sterben, ist ein Alptraum. Doch der Accord hat in den letzten zehn Jahren viel bewirkt und ich glaube nicht, dass eine der Fabriken, die darunter fallen, wie Rana Plaza einstürzen wird. Aber es gibt immer noch einige Fabriken, die nicht gemäss Accord geprüft wurden. Wer weiss schon, was dort noch passiert?

    Haben Sie eine Botschaft an die Konsument*innen in Europa?

    Die Menschen, welche die Kleider kaufen, haben die grösste Macht in der Lieferkette, denn sie haben die Kaufkraft. Das wissen die Modemarken, und deshalb achten diese auf ihr Verhalten. Deshalb wollen alle Modemarken zeigen, wie gut sie sind, damit sie ihre Produkte verkaufen können.

    Wenn die Konsument*innen wirklich etwas ändern wollen, liegt das in ihrer Macht. Wenn Sie von Ereignissen wie Rana Plaza oder anderen Ereignissen hören, sollten sie sich nicht schuldig fühlen, sondern die Schuld in Wut ummünzen. Das nächste Mal, wenn sie im Laden oder online Kleider kaufen, sollten sie nicht nur die Farbe, die Grösse, den Stil und den Preis betrachten, sondern auch nach den Arbeits- und Produktionsbedingungen fragen. Sie sollten Fragen stellen, um mehr zu wissen über die Leute, die ihre Kleider produzieren.

    Was für Fragen?

    Unter welchen Bedingungen arbeiten die Arbeiter*innen, welche die Kleider genäht haben? Erhalten sie einen Existenzlohn? Haben sie einen sicheren Arbeitsplatz? Ist die Fabrik, in der sie arbeiten, frei von Gewalt gegen Frauen? Gibt es dort Gewerkschaftsfreiheit? All das findet seinen Niederschlag in der Rechnung, die man am Ende bezahlt.

    Nichts kaufen ist keine Lösung. Wir leben in einer zivilisierten Welt und können nicht nackt herumlaufen. Aber wir sollten wissen, wie die Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern sind. Ob Bangladesch, Indien, Sri Lanka, Pakistan, Jordanien, El Salvador oder Osteuropa spielt dabei keine Rolle: Die Arbeitsbedingungen in solchen Ländern und Regionen sind sich sehr ähnlich.

    Reicht es, wenn die Konsument*innen Fragen stellen?

    Nein, natürlich sind auch die Gesetzgeber gefordert. In der EU und anderswo hat man begonnen, über Menschenrechte und eine Gesetzgebung zur menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfung zu sprechen. Das ist grossartig. Aber die Modemarken sollten nicht nur reguliert werden, diese sollen auch einen Beitrag an die Kosten leisten, die mit Verbesserungen für die Arbeiter*innen einhergehen.

    Denn wenn wir von Existenzlöhnen, sicheren Arbeitslöhnen, Gleichberechtigung und Vereinigungsfreiheit sprechen, sprechen wir auch von Kosten.

    Es kann nicht sein, dass die Modemarken in unserem Land weiterhin für möglichst wenig Geld die Kleider beschaffen, so lösen wir das Problem nie und nimmer.

    Als Arbeiter*innen sollten wir unsere Rechte auch durchsetzen können. Wenn ein Unternehmen sich nicht ans Recht hält, sollten wir Zugang zum Gericht haben, um zu erreichen, dass es verpflichtet wird, Entschädigungen zu zahlen. Das muss in der Gesetzgebung ebenfalls berücksichtigt werden

    Wie lautet Ihre Botschaft an die Modemarken in Europa und in der Schweiz?

    1. Bitte unterzeichnen Sie das internationale Abkommen, wenn Sie es noch nicht getan haben! Das gilt auch für den Pakistan Accord. Diese Abkommen retten Menschenleben!
    2. Stellen Sie sicher, dass die Arbeiter*innen, die für Sie arbeiten, unter würdigen Bedingungen leben können. Zahlen Sie genug und sorgen Sie dafür, dass die Arbeiter*innen einen Existenzlohn erhalten.

    Die Aussagen, die den Porträts von Betroffenen und dem Interview mit Kalpona Akter zugrunde liegen, wurden von Rainbow Collective & Cinema Gang in einem vor Ort gedrehten Video aufgenommen.

Was hat Rana Plaza in der Industrie ausgelöst?

Rana Plaza wurde auch von Industrie und Politik als Weckruf verstanden, so haben etwa die G7 den Fabrikeinsturz zum Anlass genommen, um bessere Arbeitsbedingungen und einen dauerhaften Entschädigungsfonds für Fabrikunfälle zu fordern. Doch von den damaligen Statements ist wenig übriggeblieben, die Industrie ist schnell wieder in den Business-as-usual-Modus übergegangen, und umfassende internationale politische Vorstösse sind ausgeblieben.

Auch das Geschäftsmodell der Branche ist im Wesentlichen gleichgeblieben. Die Bekleidungsindustrie ist nach wie vor geprägt vom globalen Wettlauf nach unten: immer mehr, immer billiger.

Textilien sind der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig in Bangladesch, dem weltweit zweitgrössten Exporteur nach China. Die Bekleidungsindustrie macht 90% der Exporte aus, weshalb das Land von den Aufträgen grosser internationaler Modeunternehmen stark abhängig ist.

2018 erhöhte die Regierung den seit fünf Jahren unveränderten monatlichen Mindestlohn für die Branche zwar von 5300 auf 8000 Taka, knapp 70 Schweizer Franken (Stand Mitte März 2023). Doch diese Erhöhung lag weit unter der Forderung der Gewerkschaften von 16000 Taka, weshalb nach Bekanntgabe des neuen Mindestlohns Anfang 2019 Tausende von Arbeiter*innen auf die Strasse gingen und mindestens 16’000 Taka forderten. An einer gewalttätigen Auseinandersetzung, bei der die Polizei Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer einsetzte, um die Menschenmenge zu zerstreuen, wurde gemäss der Menschenrechtsorganisation Business & Human Rights Resource Centre eine Person getötet, 50 weitere wurden verletzt.  

© Taslima Akhter
Die Arbeiter*innen fordern eine angemessene Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen und lebenslange Behandlungsmöglichkeiten.

Im Herbst 2023 steht erneut eine Lohnverhandlungsrunde an. Die Gewerkschaften fordern aktuell 22’000 bis 25’000 Taka. Die Nichtregierungsorganisation Asian Floor Wage hat 2022 berechnet, dass ein existenzsichernder Lohn sogar bei rund 53’000 Taka liegen müsste. Fabrikbesitzende behaupten, sie könnten das nicht finanzieren. Doch die grossen Modeunternehmen haben die Mittel und sollten eine gemeinsame öffentliche Erklärung abgeben, in der sie die Erhöhung unterstützen und ihre Einkaufspraktiken entsprechend anpassen. Zudem ist der Abstand von fünf Jahren zwischen den Mindestlohnrevisionen viel zu lang angesichts der Inflation. Die Überprüfungen sollten häufiger vorgenommen werden.

Seit mehr als 20 Jahren gibt es vielfältige freiwillige Brancheninitiativen, Programme und Standards, die ihren erklärten Zielen zufolge zu mehr Nachhaltigkeit führen sollen. Doch die Bilanz ist ernüchternd: Ambitioniertere Initiativen verharren in Nischen, andere schaffen es noch nicht einmal, niedrig gesteckte Standards effektiv umzusetzen. Diese haben sich für Modeunternehmen in erster Linie als eine weitere Möglichkeit erwiesen, ihren Ruf zu verbessern, anstatt wirklich Massnahmen zu wichtigen Themen wie Löhnen und der Repression von Gewerkschaften anzugehen. Der internationale Gewerkschaftsdachverband Ituc stuft in seinem Global Rights Index Bangladesch als eines der 10 schlimmsten Länder für Arbeiter*innen ein.

Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten erfordert politisches Handeln und die Verankerung von verbindlichen Massnahmen, damit alle Unternehmen in ihren internationalen Lieferketten Menschenrechte einhalten, inklusive dem Recht auf einen Existenzlohn.

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