Bern muss liefern: Der Modehandel braucht gesetzliche Leitplanken

Onlinehändler und insbesondere grosse Handelsplattformen sind die neuen Taktgeber im Modehandel. Sie prägen durch ihre Sortimentsgestaltung sowie ihren Fokus auf Geschwindigkeit und Preiskampf zunehmend die Lieferketten der globalen Modeindustrie. Die Politik muss diesen Strukturwandel aktiv gestalten und verbindliche ökologische und soziale Mindestanforderungen für alle Firmen festlegen.

Unser Firmencheck zeigt: Transparenz, gute Arbeitsbedingungen und ökologisch nachhaltige Produktion und Produkte haben für die meisten Onlinehändler keine Priorität. Im Gegenteil, die meisten Onlinehändler scheinen diese Aspekte gar als hinderlich für ihre Geschäftsmodelle zu betrachten, weil sie ihrem Streben nach immer grösseren, permanent neu wirkenden Sortimenten und niedrigen Preisen Grenzen setzen würden.

Freiwillige Selbstregulierung reicht nicht

Damit schädliche Praktiken und Geschäftsmodelle keine Wettbewerbsvorteile darstellen, muss die Politik verbindliche Mindestanforderungen und Regeln für alle Unternehmen festlegen. Im Bundeshaus werden der massive Strukturwandel im Modehandel und der Machtzuwachs der Online-Player im durchaus wahrgenommen. Im Mittelpunkt der meisten parlamentarischen Vorstösse zum Onlinehandel steht die Sorge, dass der Schweizer Detailhandel durch die neuen Wettbewerber benachteiligt werden könnte. Kritisiert werden etwa die Bevorzugung ausländischer Onlinehändler bei den Posttarifen,1 bei der Zollabfertigung,2 bei der Mehrwertsteuer3 und bei Gewinnsteuern,4 unzureichende Massnahmen gegen Markenrechtsverletzungen5 oder auch die grossen Rabattschlachten («Black Friday»)6. Befürchtet wird ferner die Bevorzugung der grossen Händler Zalando und Amazon durch Kooperationsvereinbarungen mit der Post.7

In Reaktion auf verschiedene dieser Vorstösse räumt der Bundesrat in einem Bericht8 ein, dass es Probleme bei der Zollabwicklung, bei den Zollkontrollen sowie bei der Besteuerung gibt. Bei den konkreten Massnahmen beschränkt er sich allerdings bislang auf technische Anpassungen bei der Zollabfertigung und -kontrolle sowie bei der Erhebung der Einfuhrsteuer.9

Den Strukturwandel gestalten

Der Wille, diesen Strukturwandel nachhaltig zu gestalten und die Umweltschäden sowie die Ausbeutung von Menschen in den Lieferketten einzudämmen, fehlt jedoch bislang. Es braucht also deutlich mehr Druck von Parlament und Bevölkerung, um die Regierung aus ihrer Passivität zu holen. Die Schlüsselrolle der politischen Regulierung unterstrichen auch Forschende der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in ihrer Branchenstudie «Commerce Report Schweiz 2021»: Während Händler, stellvertretend für die Konsument*innen, in der Verantwortung stünden, die richtigen Produkte auszuwählen und Transparenz über die relevanten Produktmerkmale zu schaffen, sei die Politik gefordert, für die entsprechenden Rahmenbedingungen zu sorgen.10

Höchste Zeit also, im Bundeshaus für gesetzliche Leitplanken zu sorgen, damit die Digitalisierung im Modehandel nicht zu einer weiteren Machtkonzentration bei wenigen Grosskonzernen führt, sondern zu Fortschritten für das Gemeinwohl, guten Arbeitsbedingungen und ökologisch nachhaltigerem Konsum. Ein Vorstoss, der ausschliesslich auf Zalando, Galaxus und Co. zielt, wäre jedoch unzureichend. Denn die Übergänge zwischen dem stationären und dem Online-Detailhandel sind in der Praxis fliessend. Klassische Filialisten stossen ins digitale Geschäft vor, während Onlinehändler zumindest punktuell stationäre Konzepte wie Showrooms, Abholstationen und Shop-In-Shop-Konzepte erkunden. Der Modehandel der Zukunft wird aller Voraussicht nach aus eng miteinander verzahnten Vertriebswegen bestehen, sogenannten Omnichannel-Konzepten.

Die schwerwiegenden Probleme der Modeindustrie – wie Ausbeutung und Armutslöhne in der Produktion, Ressourcenverschwendung oder auch prekäre Arbeitsbedingungen im Transport und der Logistik – sind nicht auf einen Vertriebskanal beschränkt. Versuchte man mit einer speziellen «Lex Zalando» oder «Lex Aliexpress» nur den Onlinehandel zu adressieren, würde dies keine gleich langen Spiesse, sondern neue, ungewollte Wettbewerbsverzerrungen mit sich bringen. Stattdessen sollten Gesetzgeber sich an den Problemen orientieren, die es zu beseitigen oder zumindest zu begrenzen gilt, und dabei darauf achten, dass Regeln alle relevanten Akteure gleichermassen in die Verantwortung nehmen.

Was bedeutet das konkret?

Modemarken, welche die Produktion steuern, stehen beispielsweise in der direkten Verantwortung, in ihrer ganzen Lieferkette existenzsichernde Löhne zu gewährleisten. Detailhändler, ob stationär oder online, sollen nur Marken in ihr Sortiment aufnehmen, die ihre entsprechende Verantwortung wahrnehmen, und sie müssen Konsument*innen entsprechend informieren. Während Marktplatz-Anbieter wiederum sicherstellen müssen, dass alle Händler auf ihrer Plattform entsprechende Vorgaben umsetzen und Informationen bereitstellen.

Wie Leitplanken aussehen könnten, die Probleme der Modeindustrie adressieren und die relevanten Akteure gleichermassen in die Pflicht nehmen, umreissen wir im folgenden Abschnitt.

Ein Gesetzespaket für Verantwortung und Transparenz im Modehandel

Wir wollen Mode, die nichts zu verbergen hat. Mode ohne Ausbeutung. Mode, die nicht im Müll landet. Dafür braucht es:

  1. Eine Pflicht zur Einhaltung von Menschenrechten inklusive der Bezahlung existenzsichernder Löhne sowie Transparenz, damit Ausbeutung verhindert wird und klar ist, in welchen Fabriken Kleidung oder Schuhe hergestellt werden;  
  2. Ein Vernichtungsverbot für neuwertige Produkte, damit unverkaufte Retouren und Restbestände nicht im Müll landen;
  3. Besseren Rechtsschutz und Kontrollen in der Logistik, damit Arbeitsrechte eingehalten werden und Jobs nicht prekär sind.

Wie könnten die Elemente des Gesetzespakets in der Schweiz konkret aussehen?

Weitere Informationen

  • 1. Pflicht zur Einhaltung von Menschenrechten

    (inkl. existenzsichernder Löhne und Transparenz)

    Hersteller und Händler, die in der Schweiz Produkte anbieten, stehen in der Pflicht. Beim Inverkehrbringen von Bekleidung und Schuhen in der Schweiz müssen sie nachweisen:

    • dass sie menschenrechtliche Sorgfaltsprüfungen umsetzen;
    • dass die Löhne in der Produktion existenzsichernd11 sind;
    • oder, wo dies noch nicht der Fall ist: welche Strategien implementiert sind, um Existenzlohn-Konformität in der Lieferkette innerhalb eines definierten Zeitraums herzustellen.

    Eine erweiterte Transparenz in den Lieferketten ist zudem Voraussetzung, um ausbeuterische Zustände zu verhindern. Hersteller und Händler müssen daher offenlegen: 

    • in welchen Produktions- und Verarbeitungsbetrieben ihre angebotenen Produkte hauptsächlich gefertigt und verarbeitet werden;
    • welche menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken sie bei der Herstellung der Produkte identifizieren und welche Massnahmen sie ergreifen, um diese Risiken zu mindern oder bestehenden Missstände zu beheben;
    • wie hoch die in diesen Produktions- und Verarbeitungsbetrieben gezahlten Löhne mindestens sind.

    Die Informationen müssen leicht zugänglich und verständlich formuliert sein sowie öffentlich kommuniziert werden.12 Produkte, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, dürfen in der Schweiz weder beworben noch verkauft werden.

    Für die Umsetzung braucht es geeignete Durchsetzungsmechanismen wie Kontrollen und Sanktionsmassnahmen. Zudem muss es die Möglichkeit einer Wiedergutmachung für Betroffene durch zivilrechtliche Haftung geben.

    Die oben beschriebenen Problemfelder sind für den Modesektor besonders relevanten, betreffen aber auch viele andere Sektoren. Die Vorschläge sollen daher in branchenübergreifende Gesetze zur Einhaltung von menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfungspflichten und Umweltstandards einfliessen.

  • 2. Ein Vernichtungsverbot für gebrauchstaugliche Produkte

    Ein Verbot der Vernichtung von neuen, neuwertigen und leicht reparierbaren Produkten könnte im Zuge der in 2022 laufenden Revision des Schweizer Umweltschutzgesetzes zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft eingeführt werden.13 Auch wenn bei Bekleidung und Schuhen aufgrund der hohen Rücksendequoten und der Saisonalität von Mode ein besonders hohes Risiko besteht, dass unnötig Ware vernichtet wird, sollte das Verbot nicht eng gefasst werden, sondern auch andere Konsumgüter einschliessen.

    Konkret sollten Hersteller, Importeure und Verkäufer verpflichten werden,

    • bei der Lagerung, beim Vertrieb sowie der Rücknahme oder Rückgabe von Produkten dafür zu sorgen, dass die Gebrauchstauglichkeit erhalten bleibt und diese nicht zu Abfall werden (Produkt-Obhutspflicht);
    • gebrauchstaugliche Produkte, derer sie sich entledigen möchten, einer weiteren Nutzung zuzuführen, z.B. durch Weiterverkauf oder Spenden;
    • Reparatur- und Änderungsdienstleistungen anzubieten, Ersatzteile bereitzuhalten und kostenlos Reparaturanleitungen zur Verfügung zu stellen.

    Ferner sollten Hersteller und Vertreiber über Art, Eigenschaften und Mengen der von ihnen in Verkehr gebrachten Produkte, über deren Rücknahme und Weiterverwendung sowie über die Verwertung von Abfällen berichten. Der Bundesrat sollte auf dieser Basis die Öffentlichkeit über den Stand der Umsetzung und besondere Herausforderungen bei bestimmten Produktgruppen informieren. Dabei sollte er auch darlegen, wie diese Vorgaben zum übergreifenden Ziel der Reduktion des Ressourcenkonsums auf ein global gerechtes und umweltverträgliches Mass beitragen und wo Nachsteuerungsbedarf besteht. 

  • 3. Besserer Rechtschutz und Kontrollen in der Logistik

    Aufgrund des hohen Risikos von Arbeitsrechtsverletzungen muss die Arbeitsinspektion

    • proaktiver und häufiger in der Logistikbranche tätig werden und mittels Schwerpunktkontrollen, konsequentem Büssen und Nachfassen bei festgestellten Verstössen die laufende Negativspirale in der Branche umkehren;
    • durch die Kantone und den Bund finanziell und vor allem personell besser ausgestattet werden;
    • und auf die Besonderheiten der Logistikbranche zugeschnittene Kontrollstrategien entwickeln.

    Die Auslagerung von Kernaufgaben an Subunternehmen und scheinselbständig Beschäftigte sollte erschwert werden, z.B. durch eine effektivere Auftraggeber-Haftung bei Sozialdumping durch beauftragte Fremdfirmen.

    Ferner sollten die branchenweit verbindlichen Mindestarbeitsstandards zu Löhnen, Arbeitszeiten und anderen Arbeitsbedingungen in der gesamten Logistik verbessert werden und für alle Unternehmen unabhängig von ihrer Grösse gelten.

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  7. Der Report als PDF PDF Download

  1. Motion 18.3540 «Mehrwertsteuerpflicht von Online-Plattformen bei Verkäufen aus dem Ausland in die Schweiz», eingereicht von B. Vonlanthen, 14.06.2018; Frage 18.5009 «Online-Handel und Zoll. Gleichbehandlung?», eingereicht von H.-J. Bigler, 26.02.2018.
  2. Motion 19.3718 «Gleich lange Spiesse für Schweizer Konsumenten und Versandhändler beim Briefversand», eingereicht von F. Grüter, 20.06.2019.
  3. Interpellation 17.4209 «Online-Verkäufe in den europäischen Binnenmarkt. Gleich lange Spiesse für Schweizer Anbieter», eingereicht von B. Vonlanthen, 14.12.2017; Postulat 17.4228 «Gleich lange Spiesse für alle Online-Versandhändler», eingereicht von T. Moser, 15.12.2017.
  4. Interpellation 18.3685 «Faire Besteuerung von Online-Plattformen in der Schweiz», eingereicht von P. Birrer-Heimo, 15.06.2018.
  5. Motion 21.3591 «Schutz der Herkunftsangabe ‘Schweiz’. Stopp chinesischer Piraterieware» eingereicht von J. Badran, T. Minder und N. Walder, 10.05.2021.
  6. Motion 20.3396 «Retten wir den Detailhandel. Für eine befristete Regelung der Ausverkaufsperioden» eingereicht von F. Ruppen, 06.05.2020.
  7. Anfrage 19.1056 «Begünstigt die Post das Verschwinden von Arbeitsplätzen im Detailhandel? Welches öffentliche Interesse besteht am Pilotprojekt mit Zalando?» eingereicht von N. Rochat Fernandez, 26.09.2019; Interpellation 18.3044 «Partnerschaft zwischen der Post und Amazon», eingereicht von M. Reynard 28.02.2018; Interpellation 18.3013 «Amazon und andere Online-Händler. Beachtet die Post den Grundsatz der Gleichbehandlung?» eingereicht von O. Feller, 26.02.2018; Interpellation 17.4314 «Was war die Rolle der Post beim Markteintritt von Amazon in der Schweiz?», eingereicht von R. Rytz, 15.12.2017.
  8. Bundesrat (2019): Gleich lange Spiesse für alle Online-Versandhändler. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 17.4228, Moser, vom 15. Dezember 2017.
  9. Neue Versandhandelsregelung ab dem 1. Januar 2019.
  10. Wölfle R. & Leimstoll, U. (2021): Commerce Report Schweiz 2021. Fokus: Epochenwechsel im Vertrieb an Konsumenten. Hrsg.: Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Hochschule für Wirtschaft, Institut für Wirtschaftsinformatik, 02.11.2021, S. 7.
  11. Löhne sind existenzsichernd, wenn sie ausreichen, um die Grundbedürfnisse von Arbeiter*innen und ihren Familien zu decken und ein gewisses, frei verfügbares Einkommen übrig lassen. Siehe hierzu Public Eye (o.J.): Existenzsichernde Löhne.
  12. Z.B. durch Veröffentlichung auf einer Webseite, durch Nennung oder Verlinkung in Produktbeschreibungen sowie durch Informationen am Produkt, etwa mittels QR-Code auf einem eingenähten Etikett oder einem Anhänger am Produkt.
  13. Siehe für detaillierte Regelungsvorschläge Public Eye (2022): Stellungnahme zur Vernehmlassung 20.433 PaIv. UREK-NR. Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken (Teilrevision Umweltschutzgesetz), 15.02.2022.

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