Die Trauer um die Sonne

© Saeed Khan / AFP
Die energiepolitische Realität ist nicht schönzureden: Kohle ist die billigste und meistgenutzte Energie der Welt, um in Elektrizität umgewandelt zu werden. Sie ist ein Entwicklungsversprechen für ein Viertel der Menschheit. Dennoch sollten wir langfristig nicht auf diesen umweltschädlichen Rohstoff setzen. Die Schweizer Unternehmen sind für den Ausstoss von nahezu 5,4 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr mitverantwortlich.

Im viktorianischen Grossbritannien wurde einst beinahe die gesamte Energie aus Kohle erzeugt. Auf globaler Ebene hat König Kohle seine Krone noch immer nicht abgelegt, da er nach wie vor ein Viertel des gesamten Energiemixes ausmacht und die am häufigsten verwendete Ressource für die Stromerzeugung ist (über 35%, laut der Internationalen Energieagentur1). Das macht ein mögliches sofortiges Verbot zu einem frommen Wunschdenken. «Wir reden hier nicht über Tabak», mahnt Lars Schernikau. «Kohle ist überall, jedes Land hat irgendwann einmal mit ihr zu tun gehabt. Ihre Energie steckt in einem Drittel von allem, was wir weltweit verbrauchen. Zurück in die Höhlen ist keine Lösung.»

Und alles scheint derzeit die Kohle zu begünstigen. Als die Europäische Union (gefolgt von der Schweiz) ein Embargo gegen russische Kohle verhängte, stieg der Kohlepreis explosionsartig an und erfreute die Bergbaukonzerne. Wenn Russland den Gashahn zudreht, profitiert wiederum die Kohle davon – sie ist der direkte Gasersatz.

Der perfekte Sturm

«Die letzten Monate waren völlig verrückt. Die europäischen Kraftwerksbetreiber kaufen so viel nicht-russische Kohle wie möglich und sind bereit, einen sehr hohen Preis zu zahlen, um die Asiaten zu überbieten», betont Alex Thackrah von Argus Media, der Referenzagentur, die Preisindizes für Spotmärkte erstellt.

Im April zeigten Daten, die Public Eye von Argus Media zur Verfügung gestellt wurden, dass die Kohleimporte nach Europa um mehr als 71% steigen würden, um die russischen Importe zum Erliegen zu bringen.

Zwischen Januar und August 2022 importierte Europa rund 63 Millionen Tonnen Kraftwerkskohle, verglichen mit 45,2 Millionen Tonnen im gleichen Zeitraum des Vorjahres, so die von Argus Media gesammelten Schifffahrtsdaten. Die grossen Gewinner: die Produzenten in Kolumbien, Südafrika und den USA. Und Australien, das sich sogar eine neue Exportroute nach Europa erschlossen hat.

Trotz des aktuellen Preisanstiegs bleibt das Sedimentgestein die weltweit am leichtesten zugängliche Energiequelle. Das ist der grosse Erfolg der Kohle. «Sie bringt benachteiligten Bevölkerungsgruppen Wärme, Kühlschränke und Kommunikation. Es gibt keinen besseren Treiber für Entwicklung», sagt ein Händler, der etwa 15 Jahre lang in der Branche tätig war.

Europa hat sich nicht geirrt. Überall bemüht man sich, Kohlevorräte für einen langen Winter anzulegen, was für die Containment-Politik gegenüber Russland von strategischer Bedeutung sein wird. «Im letzten Halbjahr wurde der Schwerpunkt auf die Energieversorgungssicherheit gelegt. Die Frist für die Abschaltung der europäischen Kraftwerke wird sich wohl verzögern», prophezeite Alex Thackrah bereits im März. In Deutschland ist dies unterdessen Realität geworden. Angesichts der Schwierigkeiten beschloss Berlin – das bis 2030 ganz aus der Kohle aussteigen wollte – im Juni, seine Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. «Es herrscht eine grosse Unsicherheit», bemerkt Alex Thackrah. «Der Trend dürfte noch mindestens zwei weitere Winter anhalten, auch wenn sich der Horizont vorerst auf die kommende kalte Jahreszeit reduziert.»

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Das Kohlekraftwerk in Mehrum im deutschen Bundesland Niedersachsen wurde Ende 2021 stillgelegt. Seit Anfang August 2022 ist das Kraftwerk, das zur tschechischen EPH-Gruppe gehört, die ihren Handelsarm seit 2019 in Zug hat, wieder in Betrieb.

Davon dürfte die EPH-Gruppe profitieren, die zwei Braunkohleminen in Ostdeutschland und mehrere Kohlekraftwerke besitzt, die zur Stilllegung vorgesehen waren. Ebenso wie der Fiskus im Kanton Zug, in dem EPH 2019 seine Handelsabteilung EP Resources gegründet hat. Wie Anfang August bekannt wurde, wird der Betrieb in zwei ihrer Kohlekraftwerke wieder aufgenommen. Das erste liegt in Mehrum im deutschen Niedersachsen; es war seit Ende 2021 auf Standby geschaltet. Das zweite, Emile-Huchet in der französischen Region Grand Est, sollte umgewandelt werden, wobei ein Teil der Produktion auf die Herstellung von Wasserstoff ausgerichtet werden soll. «Zum Glück gibt es diese Anlagen noch», sagte Tomas Novotny, Leiter des Unternehmensbereichs Dry Bulk von EPH und Mitglied des Verwaltungsrats. «Wenn Putin die Ukraine drei Jahre später angegriffen hätte, wären wir energiepolitisch praktisch Sklaven Russlands gewesen. In diese Arme hat uns die deutsche Gaslobby geworfen.»

Der tschechische Konzern EPH, der sich in den Händen des Milliardärs Daniel Kretinsky befindet, hatte sich eine Zeit lang auf den billigen Aufkauf osteuropäischer und französischer Kraftwerke spezialisiert, darunter auch Emile-Huchet. Dies hatte ihm viel Kritik von NGOs, aber auch innerhalb des Energiesektors eingebracht. Tomas Novotny geniesst die neue Situation: «Wir haben diese Vermögenswerte, die niemand mehr haben wollte, übernommen und sie in moderne Kraftwerke umgewandelt. Wir wurden aufgefordert, sie innerhalb von zwei bis drei Jahren abzureissen, aber nun sind die Behörden auf uns zugekommen und haben uns gebeten, mit diesen Werken die Energieversorgungssicherheit zu gewährleisten.» EPH wollte jedoch weder die eigene Braunkohleproduktion bestätigen noch über den Anteil an Kohle, die für Dritte gehandelt wird, Auskunft geben.

Grossbritannien, Frankreich, Italien, Österreich und die Niederlande haben ebenfalls Massnah­men ergriffen, um Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen oder ihre Leistung zu erhöhen. Die Aufzählung ist nicht abschliessend.

Versprechen nicht vergessen

Trotz des internationalen Drucks erlebt der Kohlesektor also seine besten Zeiten. Zu den Profiteuren gehört der multinationale Konzern Glencore. Im Juni 2022 kündigte er an, dass seine Gewinne aufgrund der hervorragenden Ergebnisse im Kohlehandel die Erwartungen um eine Milliarde übertreffen würden – und meldete 3,7 Milliarden US-Dollar Gewinn nur schon im ersten Halbjahr. Die Kohleförderung allein wird im Gesamtjahr mit einem Gewinn von 8,9 Milliarden mehr als alle anderen Geschäftsbereiche des Konzerns einbringen. In einem durchschnittlichen Jahr erzielt Glencore 10 bis 15% seiner Gewinne aus dem Sedimentgestein. Wenn die Weltmarktpreise wie im Jahr 2022 in die Höhe schnellen, kann dieser Anteil auf über 50% steigen. Eine Kolumnistin der «Financial Times» bezeichnete dies als «Glencores tödliche Sucht».

Trotz des Unmuts einiger seiner Investoren hat sich der Konzern stets geweigert, sich von seinen Vermögenswerten im Bergbausektor zu trennen. Im Januar 2022 erwarb er stattdessen für 588 Millionen US-Dollar die Anteile seiner Partner BHP und Anglo American an der kolumbianischen Mine Cerrejón, der grössten Mine Lateinamerikas. Kurz vor seinem Rücktritt hatte Ivan Glasenberg erklärt, dass der neue Glencore-Chef ihm ähnlich sein müsse. Sein Wunsch wurde erfüllt: Gary Nagle ist wie er ein weisser Südafrikaner, der seine Karriere auf Kohle aufgebaut hat. Der manchmal als «Mini-Ivan» bezeichnete Mann war ausserdem – wie Ivan vor ihm – seit 2000 für die Anlagen im Bergbausektor bei Glencore zuständig.

«Was halten Sie von Ihren Plänen, die Kohleproduktion zu drosseln? Was müsste geschehen, damit Sie die geplante Produktionskürzung hinauszögern und Investitionen tätigen, um der Welt die Energie zu geben, die sie in nächster Zeit benötigt?», fragte ihn ein Analyst bei der Präsentation der Halbjahresergebnisse von Glencore Anfang August 2022.2 Angesichts des weltweiten Energiebedarfs und des damit verbundenen Geldsegens scheinen energiepolitische und soziale Belange allesamt in den Hintergrund gerückt worden zu sein. In den Worten des Spezialisten der Agentur Bloomberg Javier Blas: «ESG is so, so, so yesterday.» Im Klartext: die Nachhaltigkeitskriterien Umwelt, Soziales und Unternehmensführung sind so was von passé.

Für die Teilnehmer*innen der Klimakonferenz COP26, die «die Kohle entschlossen in die Geschichtsbücher verbannen» wollten, wird die Aufgabe schwieriger als erwartet. Der Krieg in der Ukraine und die erneute Bedrohung der westlichen Wirtschaftsräume durch ein Blackout haben alte Dämonen wieder zum Leben erweckt. «Niemand ist bereit, seinen Lebensstandard herunterzusetzen. Und wer wird es den Inder*innen oder Vietnames*innen verbieten wollen, auf das zu setzen, was unseren Wohlstand ermöglicht hat? Auch sie streben nur nach einem guten Leben, wie wir es getan haben», liess die Vertreterin eines Handelshauses bereits 2019 verlauten. Das Problem ist, dass die erneuerbaren Energien noch weit davon entfernt sind, die zukünftige Energieversorgung zu sichern. Und so hat jeder seine eigene Vorstellung: Flüssiggas, Wasserstoff und sogar Atomkraft; selbst wenn das bedeutet, dass in ganz Kontinentaleuropa Tabus gebrochen werden. «Kohle ist in wirtschaftlicher Hinsicht billig, aber politisch gesehen kostspielig», fasst ein Kohlehändler zusammen.

2019 wurden 1093 Millionen Tonnen Kraftwerkskohle international gehandelt. Obschon China bereits eine grosse Menge Kohle selber fördert, ist es mit 21% auch der grösste Importeur von Kraftwerkskohle, gefolgt von Indien mit 17% und Japan mit 13%. Klick aufs Bild für Vergrösserung.

In einem Europa, das (grösstenteils) nicht mehr weiss, was es bedeutet, Kohle abzubauen, werden nun also die Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen. In anderen Ländern wurden mit viel ausländischem Kapital neue Kraftwerke gebaut. So finanziert China im Rahmen seines Grossprojekts «One Belt, One Road» (Neue Seidenstrasse) über seine Entwicklungsbanken den Bau von Billig-Kohlekraftwerken in Bangladesch, Pakistan oder Vietnam, also in Ländern, in denen die Kohle eine glänzende Zukunft erwartet.3 Bangladesch zum Beispiel plant, den Anteil von Kohle am Energiemix des Landes in den nächsten Monaten von 8% auf 17% zu erhöhen. Ein ehemaliger Händler sagt: «Es ist traurig, aber das ist der kleinste gemeinsame Nenner, der auf diesem Markt existiert. Die Sicherheitsstandards werden von denjenigen festgelegt, welche die niedrigsten Preise haben. Man versucht, Energie so billig wie möglich zu produzieren, was maximale Auswirkungen auf unsere Umwelt hat.»

Diese «Russstrassen», wie sie der Journalist Mickaël Correia in seinem Buch «Criminels Climatiques» (Klimaverbrecher) nennt,4 bedeuten, dass diese Wirtschaftsräume noch jahrzehntelang in einer stark verkohlten Umgebung gefangen sein werden, während die Zusatzkosten für die Suche nach Alternativen steigen. «In Europa oder den USA sind die Kraftwerke im Durchschnitt 40 Jahre alt. In Asien gibt es Kohlekraftwerke mit einer Leistung von über 1400 GW, die im Durchschnitt elf Jahre alt sind [Anmerkung: Das entspricht der Leistung von 1000 Kernkraftwerken wie jenem von Leibstadt oder der 700-fa­chen Leistung des Wasserkraftwerks Grande-Dixence im Wallis]. Sie sind vom Ruhestand noch weit entfernt. Das ist die eigentliche Schwachstelle im Kampf um das Klima», resümiert Fatih Birol, Exekutivdirektor der Internationalen Energieagentur, im selben Buch die Lage.5

Auf dem alten Kontinent könnte man auch die grossen Autoren des 19. Jahrhunderts zitieren, um sich die negativen Auswirkungen der Kohleproduktion und -verbrennung ins Gedächtnis zu rufen. So schilderte es Charles Dickens in seiner Novelle «Der Raritätenladen»6: «Auf den am Wege liegenden Aschehaufen, die nur durch ein paar rauhe Bretter oder verfaulte Wetterdächer geschützt waren, reckten und krümmten sich seltsame Maschinen gleich gemarterten Wesen, klirrten mit ihren eisernen Ketten, kreischten von Zeit zu Zeit unter den wirbelnden Drehungen, als könnten sie ihre Qualen nicht länger ertragen, und liessen die Erde von ihren Schmerzen erzittern.»

Die Schweiz - ein riesiger rauchender Kohleberg

Rechnet man auch die «indirekten» Emissionen mit ein, die durch die Produktion, den Transport und die Verbrennung von Kohle durch die hier ansässigen Unternehmen verursacht werden, könnte man die Schweiz in einen riesigen, rauchenden Kohleberg verwandeln.

Allein in der Schweiz belaufen sich die «indirekten» Emissionen auf fast 5,4 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr.

Es war wiederum Charles Dickens, der für die vom Finanzplatz Schweiz heute exportierten Russflocken schon zu seiner Zeit die beste Beschreibung lieferte: «Der Rauch fällt in einem schwarzen, weichen Nieselregen aus den Schornsteinen, mit Russflocken, die so gross sind wie erwachsene Schneeflocken [...] die, so könnte man meinen, die Sonne betrauern.»7

Lars Schernikau betont jedoch: «Wenn wir die fossilen Brennstoffe, die über 80% unserer gesamten Energie liefern, abschaffen würden, würde die Menschheit nicht sterben. Aber die Welt würde ganz anders aussehen.» In diesem Punkt würden ihm Umweltschützer*innen wahrscheinlich Recht geben.


  1. Internationale Energieagentur, Coal-Fired Power: Tracking Report, November 2021, letzter Zugriff am 24.08.22.
  2. Die Anekdote stammt aus: Javier Blas, ESG Is So, So, So Yesterday: Elements by Javier Blas, Bloomberg Opinion, 05.08.22, letzter Zugriff am 11.08.22.
  3. Michaël Correia, «Criminels Climatiques», Ed. La Découverte, 2022, Seiten 100-101.
  4. Michaël Correia, «Criminels Climatiques», Ed. La Découverte, 2022, Seiten 100-101.
  5. Michaël Correia, «Criminels Climatiques», Ed. La Découverte, 2022, Seite 101.
  6. Charles Dickens, «Der Raritätenladen», Insel Verlag, 2011.
  7. Charles Dickens, «Bleak House», 1853, zitiert in «La civilisation du charbon», Seite 36.

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